500 Kilometer auf Nebenstraßen von Nördlingen bis Garmisch-Partenkirchen. Ein entschleunigender Roadtrip mit flauschigen Schafen, Sterneküche und bayerischem Ayurveda. Text und Fotos: Thomas Linkel
Roadtrip von Nördlingen nach Garmisch-Partenkirchen
Stefanie Regel stützt sich auf die Schäferschippe. Hündin Aischa sitzt aufmerksam neben ihr. Der Duft von trockener Erde und würzigem Wacholder zieht über die Heideflächen im Nördlinger Ries. Beide beobachten die Herde Merino-Landschafe, die sich zupfend und kauend über die Wiese bewegt. Dann holt sie zwei neugeborene Lämmer aus dem Anhänger, um die Mutter zum ersten Säugen heranzulocken. Ruhig und friedlich ist die Szenerie. Beinahe positiv entrückt.
Schafe bringen Menschen zum Reden
„Du wirst kaum glauben, wie viele Menschen fragen, ob sie ein wenig mitgehen dürfen, oder mir einfach so ihr Herz ausschütten“, erzählt Stefanie. Diese gemächliche Art zu ziehen, sich langsam in der Natur zu bewegen, beruhige nicht nur sie, sondern eben auch andere Menschen. Die Schafe sind nicht nur Landschaftspfleger, die für Biodiversität im Nördlinger Ries sorgen. Sie stehen auch sinnbildlich für einen langsameren Lebensrhythmus, nach dem sich viele sehnen.
Sternelokal als Wohnzimmer
Runterkommen und sich wohlfühlen, das dürfen auch die Gäste von Sternekoch und Bayern-Insider Jockl Kaiser. „Unser Wirtshaus soll wie ein Wohnzimmer sein, in dem man sich entspannt unterhält und Zeit miteinander verbringt“, sagt er und setzt sich für ein paar Minuten zu uns. Seine Frau Evelin lacht gerade am Nebentisch mit Gästen, während sie Rotwein in Gläser füllt. In einer Ecke feiert eine Familie Geburtstag. Daneben flirtet ein junges Paar bei Blutwurst, Gröschtl und Krautwickeln.
Evelin und Jockl sehen ihren „Meyers Keller“ in Nördlingen als Treffpunkt zum Ideenaustausch: Sie veranstalten kulinarische Matineen und Lesungen. Natürlich steht auch dann das Essen im Mittelpunkt. Da zaubert die Küche vom leicht geeisten Gurkensüppchen über Kerbelwurzel-Gnocchi, von Huchen mit Schokolade und Salzkirsche bis hin zum Dessert aus Schokomousse, Mole und Steinpilz eine hervorragend abgestimmte Geschmacksvielfalt auf die Teller.
Stadt im Meteoritenkrater
Früheste Fundstücke, die auf eine Besiedlung des durch einen Meteoriteneinschlag gebildeten Nördlinger Ries hinweisen, sind etwa 75.000 Jahre alt. Urkundlich erstmals erwähnt wird Nördlingen 898 nach Christus, ab dem 13. Jahrhundert entwickelt sich ein bedeutendes Handelszentrum. Es entsteht eine Befestigungsmauer, auf der sich die Stadt noch heute komplett umrunden lässt.
Am frühen Morgen ist die Stimmung in der Altstadt besonders romantisch. Über das Kopfsteinpflaster rumpeln Radler an dem Gebäude vorbei, das seit 1382 ununterbrochen als Rathaus genutzt wird. Vom Dach des mächtigen Brot- und Tanzhauses klappert ein Storchenpaar, und um die Ecke sitzen Finanzbeamte in einem Haus mit schiefem Fachwerk.
Über allem ragt der 90 Meter hohe Turm der evangelischen Pfarrkirche St. Georg auf, den Einheimische nur Daniel nennen und der seit Jahren Wohnort der Katze Tilly ist. Die 350 Treppenstufen samt Türmerstübchen sind ihr Jagdgebiet. Von oben reicht der Blick über Gassengewirr, Spitzgiebel und die Stadtmauer bis hinein ins Nördlinger Ries.
Burgen, Schlösser und Sissi
Von Nördlingen cruisen wir über Landstraßen bis zur Harburg, die im 12. Jahrhundert hoch über dem Wörnitztal errichtet wurde, und halten zum Mittagessen in den Weinbergen des „Hotel Schloss Leitheim“. Die ehemalige Sommerresidenz von Zisterzienseräbten fungiert ganz weltlich als schickes Hotel. Vom Schloss aus geht der Blick in die Weite der Donauauen, ein paar Kilometer weiter östlich strömt das hellere Lechwasser in die dunkelgrünen Fluten der Donau.
Zwischen Weizenfeldern und Feldgehölzen hängt nahe Aichach ein großes Hirschgeweih über dem Eingang zum Schloss Unterwittelsbach. Das erstaunlich schlichte Anwesen, das die Wittelsbacher zur Sommerfrische nutzten, spiegelt sich perfekt im Wassergraben. Dass die spätere österreichische Kaiserin Elisabeth aka Sissi mit ihrem Vater Herzog Max als Kind wirklich im Dorfgasthaus zum Zitherspielen war, mag nur örtliche Legende sein – ein romantischer Gedanke ist es allemal.
Augsburgs Fugger: Mittelalterliche Visionäre
Fast schon zu (sozial-)romantisch, um wahr zu sein, aber trotzdem real ist die Geschichte der Fuggerei. Das in sich geschlossene Ensemble mit Gassen, Vorgärten und den gelb gestrichenen Wohnhäusern ist die älteste Sozialsiedlung der Welt. 1521 von Jakob Fugger gestiftet, um Bedürftigen zu helfen, bietet sie noch heute hundertfünfzig Menschen bezahlbaren Wohn- und Lebensraum mitten in der Stadt: Die Jahreskaltmiete beträgt 88 Cent sowie drei Gebete täglich. Wir holen uns eine kühle Maß im Biergarten, beobachten die Eichhörnchen, die sich an den bewachsenen Fassaden entlanghangeln, und vergessen die eigene Miete.
Ein Sommergewitter zieht auf, als wir durch den Torbogen der Fuggerei wieder in das „wirkliche“ Leben treten. Einige Ecken weiter beginnt es wie aus Kübeln zu schütten. Regenschirme werden aufgespannt, große Wassertropfen tanzen auf dem Kopfsteinpflaster vor dem Rathaus aus der Spät-Renaissance.
Als der Spuk vorbei ist, brechen Sonnenstrahlen durch die Wolken und tauchen die Fassaden der Bürgerhäuser in der Maximilianstraße in warmes Licht. Über Rathaus und Perlachturm wölbt sich ein zarter Regenbogen.
Den Lech entlang ins Voralpenland
Wir verlassen Augsburg und fahren entlang des Lechs nach Süden, passieren Landsberg und Schongau und erreichen das Voralpenland bei Murnau. Auf den Wiesen grasen Kühe, Zwiebelkirchtürme spitzen über Hügelkuppen, die Geraniendichte auf Balkonen nimmt zu. Auf dem Staffelsee schippern kleine Segeljollen, den Hintergrund bilden die Berge des Wettersteingebirges.
Blauer Reiter in Murnau
Zwischen Murnauer Ober- und Untermarkt herrscht Urlaubsfeeling. In den Eiscafés ist Hochbetrieb, Kinder mit Sonnenhüten plantschen an Brunnen, sonnengebräunte Wanderer klackern mit ihren Stöcken über das Pflaster.
Bei einem Espresso lassen wir die Szenerie im Schatten der farbig gestrichenen Hausfassaden auf uns wirken und kommen mit Stefanie vom Nebentisch ins Gespräch. Emanuel von Seidl habe mit seinen Künstlerfreunden vom „Blauen Reiter“ die Fassaden so farbenfroh gestaltet, erzählt sie. Stefanie Speermann lebt und arbeitet in der von Seidl gestalteten Villa Riedwies als Künstlerin.
Beflügelt
Auf einem bewaldeten Hügelrücken zwischen Staffelsee und Murnauer Moos stellt Stefanie eigene Arbeiten und die von befreundeten Künstlerinnen und Künstlern aus. Zwischen Unterholz versteckt, blicken uns mit Acryl gemalte Wölfe hinterher. Beinahe hausgroße Stühle stehen neben einem Zirkuszelt für Kulturveranstaltungen.
Auf dem Rasen vor der Villa liegen die Flügel für einen mehrere Meter hohen Pegasus aus Drahtgeflecht. Er stehe für Gedankenfreiheit, Fantasie und Kreativität, erklärt Stefanie. Das erinnere sie an das Gefühl von Schwerelosigkeit beim Galoppieren. Und dann helfen wir ihr dabei, dem Pegasus Flügel zu geben.
Durchs Murnauer Moos
Viel Fantasie braucht es nicht, um sich vorzustellen, wie es im Murnauer Moos abseits der Pfade ist: meistens ziemlich nass. Nah ist es von Stefanie zum Bohlenweg, der durch Teile des größten Alpenrandmoors Europas verläuft und zwischen blubbernden Quelltrichtern, blühenden Nasswiesen und Wollgras durch das Naturschutzgebiet führt. An einer kleinen Schutzhütte machen wir Pause und beobachten schwebende, beinahe durchsichtige Libellen, bevor wir unsere letzte Etappe angehen.
Bayurvida? Ayurveda auf Bayerisch
Balkongeranien, Lüftlmalerei und Urlauber aus der ganzen Welt bestimmen das Bild im 25 Kilometer entfernten Garmisch-Partenkirchen. International und gleichzeitig regional wird im „Staudacher Hof“ gekocht. Küchenchef Sascha Horst sucht für alle 146 Kräuter der ayurvedischen Küche ein bayerisches Pendant. 36 davon hat er bereits gefunden und bereitet damit auch kulinarische Klassiker wie den Schweinsbraten zu.
„Wir nennen das ,Bayurvida‘“, erklärt Sascha. „Es geht nicht um Verzicht, sondern darum, etwa eine entschlackende Wirkung mit regionalen Produkten auf Basis von Ayurveda auszulösen.“ Wozu also Kurkuma, wenn es die Brennnessel genauso bringt? Aber er sei kein Dogmatiker, letztlich solle es schmecken, meint Sascha, bevor er zum Abendessen Kurkuma-Kartoffelsalat mit Bockshornklee und Schnittlauch auftischt.
Partnachklamm: Höhepunkt zum Sonnenaufgang
Es ist noch dunkel, als wir den steilen Serpentinenweg hinauf zum Berggasthof „Eckbauer“ einschlagen. Irgendwo unter uns rauscht das Wasser durch die felsigen Engen der Partnachklamm. Nach zweistündigem Steigen lichtet sich der Bergwald und gibt den Blick auf den landschaftlichen Höhepunkt unserer 500 Kilometer langen Tour quer durch Bayern frei. Vor uns biegt das Reintal Richtung Zugspitzmassiv ab. Ein paar dünne Wolken hängen vor den Felstürmen des Wettersteingebirges. Einige Atemzüge später lassen die ersten Sonnenstrahlen die Gipfel leuchten. Angekommen!