Waldkirchen liegt tief im Bayerischen Wald. Es entpuppte sich bei unserem Besuch als echte Überraschung. Eine Stadt mit viel Geschichte, leichter Melancholie und jahrhundertealtem Handwerk. Umgeben von bezaubernden Naturschönheiten und alles andere als „hinterwäldlerisch“
Waldkirchen: Überraschung im Bayerischen Wald
Der Lufthammer leistet ganze Arbeit. Unentwegt rast der mächtige Metallkolben auf und nieder. Punktgenau und präzise, in gleichmäßigem Takt. Klonk-klonk-klonk, 210 Schläge pro Minute. Ein gewaltiger Beat. Wäre das hier ein Tanzclub, legte der Hammer-Sound die Grundlage für verschärften Highspeed-Techno. Wir sind aber bei Stefan Kindermann, in seiner alten Schmiede am Rand von Waldkirchen.
Gerade eben hat Stefan einen zwei Kilo schweren Edelstahl-Rohling von der Form eines Schokoriegels unter die gewaltige Apparatur gelegt. „Broadn“ nennt er den Vorgang, wenn nun das Eisen unter der gnadenlosen Wucht des Hammers auf wenige Millimeter Stärke geplättet und in die Breite geschlagen wird – einer der ersten Arbeitsschritte auf dem Weg zur schon legendären „Waidler-Pfanne“ mit ihrem Hauch von Wildwest Romantik. Beim Blick auf die Pfanne kann man sich gut vorstellen, dass Cowboys am Lagerfeuer ihre Bohnen herausschaufeln.
Die Hammerschmiede Kindermann gibt es seit 1686. Stefan schmiedet in der inzwischen zehnten Generation. Das Dasein als Schmied stand für seinen Vater lange auf der Roten Liste der vom Aussterben bedrohten Handwerksberufe. Industrielle Fertigung, globale Billigkonkurrenz – die Zukunft schien wenig verheißungsvoll.
Dann kam Stefans Vater 2014 die geniale Idee mit der Pfanne: handgeschmiedet aus einem einzigen Stück Eisen. Am Stammtisch belächelten sie ihn. Eine Pfanne, was er damit denn wolle? Doch der Josef blieb unbeirrt und machte aus der Vision ein lukratives Business-Modell.
Die Waidler-Eisenpfanne wurde zum absoluten Renner, heute machen sie in der Schmiede nichts anderes mehr. Mit siebzig Stück pro Woche kommen Stefan und drei Mitarbeiter den Bestellungen kaum hinterher. Drei Monate beträgt die Wartezeit für Kunden. „Irgendwie haben wir da einen Nerv getroffen“, sagt Stefan.
„Weil du kriagst zwar an Waidler ausm Woid raus, aber nia an Woid ausm Waidler“
Die geniale Idee seines Vaters war ein Grund, warum es ihn vor fünf Jahren trotz eines recht guten Jobs bei einem großen Maschinenbaubetrieb in Regensburg zurückzog nach Waldkirchen. Der andere war das Heimweh. „Weil du kriagst zwar an Waidler ausm Woid raus“, sagt Stefan, „aber nia an Woid ausm Waidler.“
Dieses Verwurzeltsein, dieses manchmal etwas melancholisch anmutende Gespür für die Heimat, ist ganz bezeichnend für diesen sanften, unaufgeregten Landstrich im Osten von Bayern. Eine geheimnisvolle Region. Eine geschichtsträchtige Gegend. Und ein Sehnsuchts-Ort, nicht nur für Stefan.
Hier kratzt keiner die Kurve!
Der Geschichte begegnen wir auch in der Altstadt, an vielen Ecken und Enden: in Form der berühmten Radabweiser. So hießen einst die an Häuserecken errichteten Steinsäulen, die vor Kutschen und Fuhrwerken schützten, die die Kurve mal wieder zu eng nahmen und damit das Gemäuer beschädigten.
In Waldkirchen speziell wurden diese Radabweiser zu Wahrzeichen des Orts. Liebevoll gestalteten Granitskulpturen begegnen wir beim Bummel über den Marktplatz immer wieder. Sie erinnern an historische Figuren des Orts. Hier der Wirt, dort der Kaufmann, da drüben die Marktrichter. An einer Fassade wartet der „Stoanane Hans“, ein fescher junger Mann in schneidiger Biedermeiertracht, den der Steinmetz Matthias Hausbäck schon Mitte des 19. Jahrhunderts an die Wand meißelte. Als leicht traurig dreinblickenden Burschen, der wegen seiner erfolglosen Brautschau auch „Der ewige Hochzeiter“ heißt.
Die Stadt stellte ihm 1972 auf vielfach geäußerten Wunsch der Einheimischen am Hauseck gegenüber die „Stoanane Gretl“ hin. Damit der Hans nicht mehr gar so einsam ist, wenngleich er seine Angebetete auf der anderen Straßenseite freilich niemals erreichen wird. Zum Stein-Erweichen!
Einen Hinweis, wie weit die Geschichte Waldkirchens zurückreicht, liefert uns einige Häuser weiter ein anderer Radabweiser, der „Säumer“. Die Steinfigur wurde 2010 am Stadtcafé errichtet, anlässlich eines ganz besonderen 1.000-jährigen Jubiläums. Um mehr darüber zu erfahren, besuchen wir am Südende der alten Stadtmauer das „Museum Goldener Steig“.
Es zeigt eine faszinierende Schau mit vielen digitalen und virtuellen Interaktionsangeboten, die einen sehr kurzweiligen und intensiven Einblick vermitteln in die Historie des im Jahr 1010 erstmals erwähnten und über Jahrhunderte so bedeutenden Fernhandelswegs zwischen der Donau und Böhmen.
Über die Route führten die sogenannten Säumer ihre Lastpferde, wenn sie auf ihrer dreitägigen Reise von Passau nach Norden Salz transportierten und zurück nach Süden Korn mitführten. Ein lohnendes Geschäftsmodell, dessen Blütezeit im 16. Jahrhundert war. Der Dreißigjährige Krieg und die Einfuhrverbote der Habsburger zu Beginn des 18. Jahrhunderts läuteten den Niedergang des Goldenen Steigs ein.
Es gibt im Bayerischen Wald noch viele Relikte der alten Trassen, in die Landschaft eingekerbte Mulden als Hohlwege, auf denen man auf den Spuren der Salzsäumer gemütlich entlangspaziert.
Grandioses Naturschauspiel
Als entspanntes Wander-Erlebnis bietet sich direkt vom Stadtzentrum aus der Abstecher in die Saußbachklamm an. Die sechs Kilometer lange Rundtour mit Start am Marktplatz führt hinaus Richtung Süden und dann an der Saußmühle vorbei. Im ehemaligen Sägewerk verkauft heute ein Bioladen frische, regionale Lebensmittel. Wir stärken uns hier, unmittelbar vor dem Einstieg in die rauschende Klamm, bei Kaffee und Streuselkuchen.
Im Canyon erwartet uns ein grandioses Naturschauspiel mit Wasserfällen und Kaskaden, wilden Felsformationen und schattigen Uferplätzen am Bach. Es ist eine der beeindruckendsten Urlandschaften in ganz Ostbayern.
Auf einer Länge von zwei Kilometern steigt der Pfad ganz sanft an, bis wir einen kleinen Stausee erreichen, von dem aus der Weg zurück in den Ort führt, und zwar entlang eines kleinen Kanals, den die Bürger Waldkirchens im 15. Jahrhundert als künstlich angelegte Abzweigung des Saußbachs nutzten: zur Versorgung der Stadt mit Trinkwasser und zum Wäschewaschen sowie für die Wasserzufuhr der so wichtigen städtischen Berufsstände wie die Gerber, die Sieder und Brauer.
Unterkriegen lassen? Waldkirchen? Nie!
Es geht zurück in die Stadt, zur auch als Bayerwald-Dom bekannten Pfarrkirche St. Peter und Paul, die Mitte des 19. Jahrhunderts im neugotischen Stil erbaut und bei Fliegerangriffen Ende April 1945 – wie die gesamte Altstadt – vollkommen zerstört wurde.
Bei Fliegerangriffen Ende April 1945 wurde die gesamte Altstadt vollkommen zerstört
Damals hatten die anrückenden US-Truppen kurz zuvor auf Flugzetteln bereits die friedliche Einnahme angekündet, unter der Bedingung, dass die Bevölkerung keinen Widerstand leistet. Doch als von einem Flakwagen ein amerikanisches Aufklärungsflugzeug beschossen wurde, legten die Flieger der Air Force mit Bomben die Stadt in Schutt und Asche. Jahrelang dauerte der Wiederaufbau, so wie auch nach den fünf verheerenden Feuersbrünsten, die seit 1492 die Stadt immer wieder verwüstet hatten.
Aber wirklich unterkriegen ließen sich die Waldkirchner nie. Dass es immer irgendwie weitergehen muss, und wenn’s im Leben noch so schlecht läuft, hatte einst ja auch die berühmteste Tochter Waldkirchens gedacht. Die Schriftstellerin Emerenz Meier (1874–1928) gilt neben Lena Christ als die bedeutendste Volksdichterin Bayerns.
Ihr haben sie im Geburtshaus im Ortsteil Schiefweg ein packendes Museum gewidmet. Mit der spannenden Erzählung vom Leben einer streitbaren Frau, die anfangs in ihren Texten, in ihren Liebeserklärungen an die Natur und Heimat auch der bayerwaldlerischen Melancholie Ausdruck verlieh.
Zu Hause wurde sie oft als „narrische Verslmacherin“ verspottet, bevor sie 1906 in die USA auswanderte und sich in ihrer Wahlheimat Chicago als Pazifistin und Antikapitalistin sowie als Kämpferin gegen soziale Missstände engagierte, bis sie mit 53 Jahren an den Folgen einer Nierenentzündung starb.
Das Museum „Born in Schiefweg“ reflektiert im zeithistorischen Kontext und in vielen kleinen Details die Geschichte wie auch die persönlichen Schicksale der anderen rund 6.000 Auswanderer, die wegen der wirtschaftlichen Not aus dem Bayerwald in den Jahren zwischen 1880 und 1902 „ins Amerika“ emigrierten, wie es damals hieß.
Man erfährt, welche Hürden und Hindernisse die Neuankömmlinge zu überwinden hatten, wie sie sich in einem Viertel in Chicago als eingeschworene niederbayerische Gemeinschaft niederließen. Wie sie Brauchtum pflegten und altes Liedgut, wie sehr sie vom Heimweh geplagt wurden. Weil man auch bei ihnen nie den Woid aus den Waidlern brachte.