Unaufgeregt, entspannt, ohne Allüren: Bayerns zweitgrößte Stadt präsentiert sich demonstrativ gelassen. Unterwegs mit Taxler Sinan zu seinen Lieblingsorten. Von Ringen, Rittern, Henkersbrücken – mit einem Döner und Drei im Weggla. Text: Florian Kinast, Fotos: Thomas Linkel
Insidertipps garantiert! Sightdriving in Nürnberg mit dem Taxi-Guide
Nachmittags am Nürnberger Hauptmarkt. Ein warmer Julitag. Die Sonne steht weit oben im Südwesten, irgendwo Richtung Ansbach. Touristen samt Kindern schleichen rätselnd um den Schönen Brunnen, ein recht eigenartiges Bauwerk aus dem 14. Jahrhundert. Es wirkt mit seinem verschnörkelten, gotischen Turm, der aus der Wasserschale knapp 20 Meter in die Höhe wächst, wie eine Kirche im Miniaturformat. Eine Kathedrale aus dem Modellbaukasten.
Diesen Ort, nach dem die ortsunkundigen Gäste suchen, kennt unser Begleiter nur zu gut. So erzählt Sinan Ünlühan, mit dem wir uns hier verabredet haben, gleich nach der Begrüßung die Geschichte vom Goldenen Ring.
Diesen habe der Legende nach einst ein Schlosserlehrling in das Brunnengitter eingelassen, bevor er über die vielen Jahrhunderte nicht nur zum Wahrzeichen der hiesigen Handwerksburschen wurde, sondern auch diejenigen mit Kindersegen belohnte, die dreimal an ihm drehten.
Natürlich kennt Sinan die alte Sage, er war ja schon als Kind oft hier und weiß auch um den Mythos, dass der golden glänzende Ring nur in die Irre führt. Manche sagen, die Stadtherren hätten ihn einst als Attrappe aufgehängt, um die Fremden zu narren. „Der wahre Glücksbringer“, sagt Sinan, „ist natürlich der dunkle Ring, der versteckt gegenüber auf der Rückseite liegt.“ Insiderwissen eben.
Taxi-Guide Sinan: Ein Nürnberger Kindl
Sinan Ünlühan, unser kundiger Begleiter für den Rest des Tages, ist ein Nürnberger Kindl. Eines, das man gern auch waschecht nennt. Seit seiner Geburt vor mehr als 30 Jahren lebt er hier, drüben in St. Johannis wuchs er auf, dem Viertel im Nordwesten der Altstadt. Später wohnte er dann in Bauernfeind, der Rangierbahnhof-Siedlung im Südosten.
Man hört seinem intensiv fränkelndem Dialekt die Herkunft an. Im Vergleich zu Sinan sprechen Lothar Matthäus und Erwin Pelzig gepflegtes Hochdeutsch. Seit gut zehn Jahren fährt er als Taxler durch die Stadt – eine gute Basis, um sich von ihm heute zu den bekannten wie den geheimen Orten führen zu lassen, an diesem Tag, an dem er es uns so richtig zeigt: sein Nürnberg.
Vom Schönen Brunnen geht es über den Rathausplatz, vorbei an St. Sebaldus, Nürnbergs ältester Pfarrkirche. Gegenüber liegt das Loch, das einstige Gefängnis im Keller des Rathauses, heute ein Museum mit Folterkammer und Daumenschrauben, ein eher schaurig-düsterer Platz.
Für den Anfang unserer Tour, meint Sinan, sei es gut, sich erst einmal einen Überblick zu verschaffen. Und wo hat man einen besseren als oben von der Burg, jenem Ort, der ihm am meisten ans Herz gewachsen ist, wie er sagt, an dem er sich am wohlsten fühlt. Wo ihm seine Stadt zu Füßen liegt.
Hufabtritte an der Mauer: Ritter auf dem Absprung
Die Burg ist ein guter Platz und ein guter Zeitpunkt, um über Nürnberg zu sprechen. Was so besonders daran ist. Was er so schätzt. Warum es ihn nie weggezogen hat. „Es ist das geerdete Ambiente, das ich an Nürnberg so mag“, sagt Sinan, während hinter ihm ein Tourguide mit blauem Regenschirm über dem Kopf eine Besuchergruppe Richtung Fünfeckturm führt und die beiden Hufabdrücke in der Mauer sträflich links liegen lässt.
„Nürnberg macht sich nicht wichtiger, als es ist. Es ist schön am Boden geblieben“
Dabei sei das eine der geheimen Hauptattraktionen der Burg, erzählt Sinan und unterbricht kurz seine Eloge: „Die Stelle, an der einst der verurteilte Raubritter Eppelein von Gailingen hoch zu Ross hinunter in den Burggraben gesprungen war, auf der Flucht vor der Hinrichtung.“ Eine der vielen Sagen, ziemlich hanebüchen, aber ziemlich hörenswert.
Zurück zur Liebeserklärung an seine Heimatstadt. „Nürnberg ist sehr einfach, ehrlich, geraderaus“, sagt er mit Blick über den Burggraben. „Es ist nicht zu klein und nicht zu groß und ist frei von Star-Allüren. Nürnberg macht sich nicht wichtiger, als es ist. Es ist schön am Boden geblieben.“ Und außerdem, fährt er fort, gebe es hier eben „keinen Jet-Set-Rummel und keine Schicki-Micki-Szene“. Zu entschlüsseln, auf welche Stadt weiter südlich er damit anspielen könnte, fällt nicht weiter schwer.
Bunker und Bratwurst: Die besten Drei im Weggla
Wir brechen auf, für eine erste Stärkung über die Pegnitz hinüber Richtung Krebsgasse – dort, wo die Stadt im Kalten Krieg einst einen Atombunker in die Erde baute, als Zufluchtsort für gerade einmal knapp 2.000 Menschen im Ernstfall. Doch nicht wegen schauriger Katastrophenszenarien bringt uns Sinan hierher, vielmehr wegen irdischer Gaumenfreuden.
Er verspricht uns die besten „Drei im Weggla“ der ganzen Stadt. Das Soul-Food Nürnbergs ist Teil der eigenen Identi-Brät. Fleischgewordenes Lebensgefühl, das schon Albrecht Dürer vor gut 500 Jahren neben einem Seidel Bier für sich als unverzichtbares Kulturgut seiner Heimat definierte, wenn er im „Bratwurstglöcklein“ einkehrte, dem Stammlokal des großen Malers.
Sinan verortet das Epizentrum der besten Bratwurst an der Ecke Krebsgasse/Brunnengasse. Dort liegt das „Schlemmereck“, ein Imbiss, wo das Würstl-Trio weggeht wie die warmen Semmeln. Freilich kennt er auch den Grund, warum die Würste so klein sind, rund acht Zentimeter lang und nur 20 Gramm schwer.
Ist eben ganz was Leichtes für zwischendurch.
„Die Größe hat nichts mit dem Geiz der Metzger zu tun“, sagt der Taxler beim zweiten Biss, „vielmehr konnten so auch die Reisenden, die spätabends vor der verschlossenen Stadt standen, durch die Schlüssellöcher der Tore versorgt werden.“ Eine andere Version: Die Bratwürste sollten auch durch die engen Gitterstäbe im Gefängnis passen, als Leckerli für die Insassen. Für halbwegs humane Haftbedingungen im Mittelalterknast. Oder als finale Henkersmahlzeit.
Die „Hangman’s Bridge“: Wo der Henker zur Arbeit ging
Zum Henker bringt uns Sinan nun über den gleichnamigen Steg, in englischsprachigen Reiseportalen auch mit dem schönen Namen „Hangman’s Bridge“ vermerkt. Eine kleine Brücke, die über einen Arm der Pegnitz führt und deswegen so heißt, weil drüben auf der Trödelmarktinsel einst der Scharfrichter hauste. Auf dem Weg zur Arbeit nutzte er immer diesen Übergang – so wie auch wieder heimzu nach Feierabend.
Heute ist die Hauptattraktion des kleinen Eilands das 2021 eröffnete Bratwurstmuseum mit einer Ausstellungsfläche von 100 Quadratmetern zu Geschichte, Sagen und Mythen rund um den kulinarischen Klassiker.
Wir bummeln in dieser wunderbaren Abendstimmung weiter das Südufer der Pegnitz entlang, durch die schmale Untere Wörthgasse, vorbei an versteckten kleinen Lokalen mit passenden Namen wie „Die Unauffindbar“ hinüber zum verträumten Unschlittplatz mit einem angenehmen Grundrauschen, das von den gut frequentierten Freischankflächen herübermurmelt. Wir flanieren noch hinüber zum Zukunftsmuseum, der neuen Dependance des Deutschen Museums am Augustinerhof, und nehmen uns nach diesem langen Spaziergang nun doch noch ein Taxi. Sinans Taxi.
Meisengeige und der Grillmeister: Altes Kino, bester Döner
Brandneu, hochmodern und voll elektrisch schnurrt Sinans Bolide nun auf der Ringstraße rund um die Altstadt, dann hinein in die Innere Laufer Gasse. Gegenüber der „Meisengeige“, einem nostalgischen Filmkunstkino, ein erster kurzer Boxenstopp am „24sieben“, Nürnbergs erstem rund um die Uhr geöffneten Supermarkt ganz ohne Personal. Nicht nur für Taxler sei der nach Ladenschluss eine beliebte Anlaufstelle, sagt Sinan, während sich vor den Automaten Kundschaft quer durch alle Generationen drängt. Es gibt eine bunte Palette aus Cola, Limo, Bier, Nudelsuppen und Schokoriegeln, Kaffee, Knödel und Kondomen. Was man eben alles so braucht.
Sinan gibt eine Runde pappsüßen Energy-Drink aus, bevor er uns dann einen seiner wichtigsten Orte in der Stadt zeigt. Draußen in der Sulzbacher Straße, einer wenig pittoresken, aber lauten Ausfallschneise Richtung Zubringer zur A3, wo eigentlich wenig zum Verweilen einlädt. Die Imbissbude mit dem lustigen Namen „The Grillmeister“ ist laut Sinan die Heimat des besten Döners der ganzen Stadt – und der üppigsten Portionen.
Sinan hat nicht zu viel versprochen. Dicht gedrängt sitzen wir mit unseren voll beladenen Tellern samt ordentlich Beilagen an einem der engen kleinen Tische vor dem Laden. Müssen nicht immer Drei im Weggla sein, Nürnberg kann auch Kebab im Fladenbrot.
Eine Straßenbahn der Linie 8 fährt ratternd am Grillmeister vorbei in Richtung Erlenstegen im äußersten Nordosten Nürnbergs. Wir überlegen, wie und wo wir unsere Tour beschließen. Für Sinan gibt es da nur einen passenden Ort: im Schatten der Burg, am Tiergärtnertor.
Finale am Tiergärtnertor: Sommernachtstraum am Fuß der Burg
Das Tiergärtnertor ist ein klassischer Treffpunkt der Einheimischen, der auch bei unserer Ankunft spätabends gut besucht ist. Manche sitzen an Tischen, andere auf Bänken, viele überall verteilt auf dem Platz, versorgt mit Getränken aus den Lokalen ringsherum wie dem „Café Wanderer“.
Am Ende dieser langen Tour zählt Sinan noch viele Dinge auf, die er uns für den nächsten Besuch empfehlen würde. Ein Besuch des Germanischen Nationalmuseums mit dem ältesten Globus der Welt, noch ohne Amerika! Die Kugel stammt von 1492, dem Jahr, in dem Kolumbus Richtung Westen aufbrach und Dürer bereits im „Bratwurstglöcklein“ saß.
Ein Spiel des 1. FC Nürnberg, der „Glubberer“, im Max-Morlock-Stadion, eine Bootsfahrt über den Dutzendteich sowie die Visite des NS-Dokumentationszentrums und des gespenstisch anmutenden Aufmarschgeländes für die Reichsparteitage der Nazis. Denn auch diese schreckliche Vergangenheit gehört als finsteres Kapitel zur Geschichte Nürnbergs.
Es geht auf Mitternacht zu, als Sinan sich allmählich verabschiedet, aufbricht und davonsurrt durch die Nacht. Wir bleiben noch, genießen bei einer nun wirklich allerletzten Runde die traumhafte Sommernacht, reflektieren im Kopfkino noch einmal die Impressionen der Stunden zuvor, möchten gar nicht mehr aufstehen und sitzen sinnierend noch lange auf dem alten Kopfsteinpflaster. Wahrlich eine Stadt, um schön am Boden zu bleiben.