Dachau beherbergte zwischen 1880 und 1920 eine Künstlerkolonie von europäischem Rang. Die herbe Mooslandschaft vor der Stadt faszinierte naturbegeisterte Künstler. Dieses Kulturerbe wird mit Erfolg lebendig gehalten
Dachau: Von der Künstlerkolonie zur Künstlerszene
Die Belle Epoque kommt lachend und flotten Schritts daher. Die elegante Erscheinung passt von Kopf bis Fuß in die Blütezeit der Dachauer Künstler. Mit knöchellangem Rock und einem Hut mit Schleifen sowie breiter Krempe eilt Gästeführerin Nina zum Treffpunkt am Brunnen. Modischen Kontrast dazu liefert das Bauernpaar in Dachauer Tracht. In rotem Marmor ziert es die Säule des Brunnens, den Ignaz Taschner 1910 entworfen hat. Der Bildhauer, der mit Ludwig Thoma befreundet war, lebte von 1906 bis zu seinem Tod 1913 bei Dachau.
„In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden in ganz Europa Künstlerkolonien. Vorbild war das Dorf Barbizon am Wald von Fontainbleau nahe Paris“, erzählt Nina. Viele Maler lehnten die etablierten Kunstakademien mit ihren Regeln ab, wollten Landschaften nicht mehr heroisch oder religiös überhöht darstellen wie Caspar David Friedrich. Sie interessierten sich mehr für Naturstimmungen und Lichtphänomene.
„Sie wollten raus aus den Ateliers, hinaus in die Natur, diese unmittelbar erleben und so atmosphärisch dicht wie möglich darstellen“, so Nina. Diese Natur sollte am besten nahe einer großen Stadt liegen, in der man die Bilder verkaufen konnte. München etwa.
Das „bayerische Barbizon“
Dachau bot ideale Bedingungen. Die Altstadt liegt auf einem Höhenzug, der am nordwestlichen Rand der Münchener Ebene aufragt. Darin dehnte sich vor Dachau und um das benachbarte Karlsfeld das Moos aus.
Eine karge, dünn besiedelte Moorlandschaft war das. Durchflossen von den Flüssen Amper, Würm sowie kleineren Bächen, mit schwarzem Boden, Streuwiesen, Riedgras, Kiefern und Auen – eine Landschaftskulisse, die so heute nicht mehr existiert.
Die hohe Luftfeuchtigkeit bewirkte wechselnde Lichtstimmungen und Farbspiele, genau das, was die Landschafter suchten. Darüber hinaus war München mit seinem Kunstmarkt zu Fuß in wenigen Stunden zu erreichen, seit 1867 sogar bequem per Bahn.
Der erste Maler, der versuchte, die Lichtphänomene im Moor auf die Leinwand zu bannen, war Eduard Schleich der Ältere. „Schleich war als ‚Vater der Stimmungsmalerei‘ bekannt, typisch seine Landschaftsbilder im quer gelegten ‚Handtuchformat‘ und mit ihren Wolken- und Lichtspielen“, so Nina.
Schleich durchstreifte in den 1850er-Jahren das Moos mit Malerkollegen, darunter auch Carl Spitzweg. Gelegentlich kam’s zum Co-Working – Schleich legte die wolkenreiche Landschaft vor, Spitzweg steuerte die Personen bei.
Schön auf die Tube drücken!
Der Genius Loci sprach sich herum, immer mehr Landschaftsmaler kamen. „Dachau wurde von Künstlern überschwemmt“, so Nina. Anfangs nur im Sommer für ein paar Tage oder länger, „man hat sogar die Speicher an sie vermietet“.
„Dachau wurde von Künstlern überschwemmt“
Ab 1880 ließen sich viele Künstler häuslich nieder, es entstanden stattliche Villen und Ateliers. Um 1900 erreichte die Kolonie ihren Höhepunkt, als südlicher Antipode von Worpswede bei Bremen europaweit bekannt. Wichtige Künstler waren Adolf Hölzel, Ludwig Dill und Arthur Langhammer, genannt die „Dachauer“. Kurz nach dem Ersten Weltkrieg löste sich die Kolonie auf.
Die Künstler gehörten zum Alltag. Geschäfte für Malbedarf wurden eröffnet, der Amper-Bote berichtete über die Kreativen. Besonders freute sich die Dachauer Jugend. Als „Malermadeln“ und „Malerbuam“ verdienten sie sich ein Taschengeld. Maler gingen nicht allein zur Arbeit. „Wenn ein Maler ins Moos zog, hatte er zwei bis drei Helfer dabei“, erzählt Nina. „Sie trugen die Leinwand, Staffelei, Schirm, Decken, Wasser, Picknickkorb – und die Farbtuben.“
Die Erfindung der Tubenfarben hatte in der Mitte des Jahrhunderts das Freiluftmalen enorm vereinfacht. Man musste Farben nicht mehr aufwendig selbst zurechtmischen, sie waren „malfertig“ in leicht transportablen Tuben verfügbar.
Blick vom Karlsberg Dachau gegen das Gebirge
Nina begleitet uns zur Rathausterrasse. Dort beginnt ein Weg, der auf den Spuren der Künstler durch Dachau, zu seinen Sehenswürdigkeiten und entlang der Amper führt. Unterwegs sorgen achtzehn Stationen für ein „Vorher-Nachher-Feeling“: Stelen zeigen jeweils ein Gemälde und den Blickwinkel auf das gemalte Motiv, sodass der Betrachter das Bild mit der heutigen Realität vergleichen kann.
Die erste Station, der Blick nach Süden von der Rathausterrasse, ist sensationell: Man schaut weit über Dachaus Dächer und die Münchener Ebene bis hin zur großen Stadt mit ihren Türmen und Hochhäusern. An diesem warmen Juni-Tag mit seinem fahlblauen Himmel verschwindet die Alpenkette am Horizont im Dunst.
Eduard Schleich hat diesen „Blick vom Karlsberg Dachau gegen das Gebirge“ um 1861 gemalt. Zwei Drittel seines Gemäldes füllt Wolkenspiel, der Rest ist Wiesen und Bäume…
Das Herzstück: Gemäldegalerie Dachau
Dachaus Altstadt ist reizvoll und überschaubar. Überragt wird sie von der Kirche Sankt Jakob mit barockem Turm. Sehenswert ist der Alte Friedhof mit frühbarocker achteckiger Kapelle und vielen Künstlergräbern. Ein Höhepunkt ist das Schloss mit Hofgarten und romantischem Laubengang, „der wurde fast von jedem Künstler gemalt“, lacht Nina.
In der Augsburger Straße 13, im Haus Rauffer, wohnte Rechtsanwalt und Schriftsteller Ludwig Thoma von 1894 bis 1897. Ferner finden sich in der Straße die Traditionsgaststätten „Unterbräu“ – „jetzt das ,Bakalikon‘, ein guter Grieche“, empfiehlt Nina –, „Kochwirt“ und der „Zieglerbräu“. Ein süßes, kleines Ladencafé mit Schwabing-Charme ist das „Samstagskinder“, ein Café-Bistro mit Kleinkunstbühne die „Kultur-Schranne“.
Das ideelle Herz der Künstlerkolonie schlägt in der Gemäldegalerie Dachau gegenüber dem Rathaus. „Die Gründung geht zurück auf eine Initiative von Künstlern und Bürgern, die sich 1903 zum Museumsverein zusammengetan hatten“, erklärt Elisabeth Boser, Geschäftsführerin der Dachauer Museen.
„In der ständigen Ausstellung erzählen wir chronologisch die Geschichte der Künstlerkolonie mit circa 220 Kunstwerken, alle wichtigen Maler sind vertreten“, so Boser. Besonders hebt sie die Werke von Adolf Hölzel hervor, der stetig seinen Stil änderte und weiterentwickelte. Später malte er sogar abstrakt und wurde Wegbereiter der Moderne.
Malweiber stürmen Malschulen
Hölzel, der 1888 bis 1905 in Dachau lebte, gründete die erste Malschule, andere Privatschulen folgten. Die meisten der Eleven waren Schülerinnen, Frauen waren nicht zum Studium an der Akademie in München zugelassen. „Die Malerinnen auf dem Lande sollen so fleißig sein, dass sie oft spät abends noch an einer Morgenstimmung arbeiten“, spottete eine Zeitschrift 1897.
Häufig nannte man die Frauen auch „Malweiber“ – ein Wort, das Nina positiv sieht: „Im Bayerischen wird ‚Weib‘ mit wehrhaft, zupackend und unabhängig assoziiert.“ Dass sie Führungen im Kostüm der Malweiber veranstaltet, versteht sie als Hommage an die kreativen Damen und „Vorläuferinnen der Emanzipation“.
Pfiat di, Künstlerkolonie! Griaß di, Künstlerszene!
Dachau vermietet heute Ateliers zum Wohnen und Arbeiten an Künstler und veranstaltet Atelierbesuche. So wie in der Stockmann-Villa, einem neobarocken Bau aus dem Jahr 1899 in der Münchner Straße. Dort hat der Konzeptkünstler Ralf Hanrieder sein Atelier.
„Dachau hat ein lebendiges Kulturleben, gerade in Sachen zeitgenössische Kunst“, so der Künstler. An den Wänden hängen Bilder, auf denen immer wiederkehrende Muster und hochkomplexe Netzstrukturen in Neonfarben leuchten. In Anlehnung an die Dachauer Kolonisten könne man die Muster als geistige Landschaften bezeichnen, erläutert Hanrieder.
Seine Nachbarin, die Fotografin Lilly Karsten, ist in der Villa aufgewachsen. Schon ihre Mutter hatte dort als Künstlerin gearbeitet. Man sieht viele Fotografien, in Schwarzweiß und Farbe. Lilly fotografiert gern Landschaft oder Tiere, macht aber auch Porträts und Hochzeitsfotos. Ihr ist die Stimmung wichtig, in der das Bild entsteht. Man muss spüren, „dass das ein guter Moment war“. Besonders schätzt Lilly Dachaus Altstadt, „die hat auch was Mediterranes“, so die Künstlerin.
Von der Zeichnung zur Installation
Das Atelier von Tadeusz Stupka ist ein wildes Durcheinander von Bildern und Büchern. Auf einer Staffelei ein großes abstraktes Gemälde „in progress“: Man sieht viel blaue Farbe, in der Mitte gelbe Akzente. Der Künstler experimentiert gern, malt Aquarelle, in Öl oder mit Acryl, abstrakt und gegenständlich, Personen oder Stadtansichten. Sein Lieblingsplatz ist das Schloss: „Dort unterrichte ich Malschüler im Aquarellieren.“
Aktuelle Kunst findet in der Neuen Galerie Dachau ein Podium. Man betritt die Galerie in der Konrad-Adenauer-Straße durch einen hübschen Innenhof, in dem Rosen und Holunder blühen. „Wir zeigen nur Sonderausstellungen zu einem bestimmten Thema“, erklärt die Leiterin Jutta Mannes.
Auch die KVD, die Künstlervereinigung Dachau, vor mehr als 100 Jahren gegründet, veranstaltet jährlich acht Ausstellungen zeitgenössischer Kunst. „Alle zwei Jahre organisieren wir zudem die große Schlossausstellung“, so Zeichner Florian Marschall.
Der Künstler schafft seine Tuschbilder aus Tausenden übereinandergelegten Strichen oder aus Punkten und erfasst dabei das Wesentliche eines Objektes, etwa das einer Pfanze, eines Tieres oder eines Porträts. Etwa siebzig aktive Mitglieder zählt die KVD. Neben Malerei und Bildhauerei sind auch Fotografie, Video und Installation vertreten. Und: Über die Hälfte der Künstler seien heute Künstlerinnen, schätzt Florian aus dem Stegreif – das hätte den Malweibern gefallen!