Schwimmen bei Temperaturen um den Gefrierpunkt? Nichts für Warmduscher! Reporterin Astrid Därr wagte einen frostigen Selbstversuch mit der Eisschwimm-Weltmeisterin Julia Wittig aus Burghausen
Eisbaden im Selbstversuch mit Weltmeisterin Julia Wittig
„Keine Angst, das schaffst du schon“, sagt Julia und klopft mir aufmunternd auf die Schulter. „Ganz ruhig atmen. Immer an die Atmung denken“, redet sie mir zu. Wir stehen barfuß auf dem Holzsteg am grün glitzernden Wöhrsee in Burghausen.
Auf dem schmalen Bergrücken direkt über uns thront die längste Burg der Welt mit zinnengekrönten Mauern und schindelgedeckten Wehrtürmen.
Es ist Mitte Januar, acht Uhr, ein klarer Samstagmorgen. Schnee und Frost lassen in diesem Winter auf sich warten. Ist man nur mit Badeanzug und Mütze bekleidet, sorgt auch eine Außentemperatur von drei Grad plus für Gänsehaut. Andere Leute gehen am Wochenende gemütlich in die Sauna, wir sind zum Eisschwimmen am See verabredet.
Als Bergsteigerin, die schon oft bei Minusgraden campiert hat, fürchte ich mich eigentlich nicht vor der Kälte. Trotzdem spüre ich einen starken inneren Widerstand – nicht nur meines Körpers, sondern auch meines Kopfs.
Zumindest bin ich in bester Gesellschaft: Julia Wittig ist Wettkampfschwimmerin und hat bereits mehrere Weltrekorde im Eisschwimmen aufgestellt. Mit von der Partie sind außerdem Tobias Wybierek, ebenfalls Leistungssportler und zweiter Vorstand des Burghausener Eisschwimmvereins „Serwus“, sowie Stephanie Asenkerschbaumer, eine Hobby-Eisschwimmerin und Freundin der beiden.
Luft drei Grad. Wasser fünf Grad
Offenbar sehe ich so aus, als brauche ich Zuspruch. Julia steht dicht neben mir und gibt mir weitere Tipps, wie ich meinen ersten Eisbadeversuch bestmöglich überstehe. Ihr ist nicht anzumerken, dass sie – ebenso wie ich – still gegen einen widerspenstigen Geist ankämpft. Sie wirkt von Anfang an fest entschlossen. Ganz anders Tobi, der nur ein knappes Badehöschen und sonst keinen Stoff auf dem durchtrainierten Bauchmuskeln trägt.
Er schimpft unüberhörbar auf die Kälte und sich selbst, warum er sich nur so etwas antut. Steffi pflichtet ihm lachend bei, als sie sich langsam ins fünf Grad kalte Wasser gleiten lässt. Die drei schwimmen einige Züge und warten im See auf mich.
„Nach ein paar Minuten wird mein Hirn in Endorphinen ertränkt. Herrlich, ich war drin!“
Während ich Sprosse für Sprosse die Badeleiter hinuntersteige, ertappe ich mich dabei, wie ich die Luft anhalte. Tausend Kältestiche traktieren Beine und Füße. Um zu verhindern, dass zu viel kaltes Blut in die Organe strömt, ziehen sich die Gefäße in den Extremitäten zusammen. Die Durchblutung in den Beinen, Füßen, Armen und Fingern wird reduziert, sie kühlen daher am schnellsten aus.
„Ruhig weiter atmen“, erinnert mich Julia. Die Beine sind drin, jetzt geht’s an die Nieren, im wahrsten Sinne. Neben dem Kopf ist die Leibesmitte der kälteempfindlichste Teil des Körpers. Da hilft auch mein bauchbedeckender Badeanzug nur wenig.
Noch einmal tief durchatmen, dann schwimme ich hektisch zwei Züge, um nach wenigen Sekunden wieder umzudrehen. Zurück auf dem Steg, reagiert mein Körper wie er soll: Das Blut schießt in Arme und Beine, meine Gänsehaut wird rot. Nach ein paar Minuten setzt das Muskelzittern ein und mein Hirn wird in Endorphinen ertränkt. Herrlich, ich war drin!
Extremsport Eisschwimmen
„Bevor man das Eisschwimmen ausprobiert, sollte man sich darüber im Klaren sein, dass es ein Extremsport ist“, sagt Julia später. „Das ist nichts für Menschen mit Herz-Kreislauf-Problemen oder einer akuten Erkältung“, ermahnt sie. „Der Körper reagiert im kalten Wasser im Überlebensmodus, deshalb sollte man möglichst stressfrei zum Eisschwimmen gehen und sich mental darauf vorbereiten“, ergänzt Julia.
Inzwischen sitzen wir eng zusammen in der vorgeheizten Infrarotkabine, die der Schwimmverein „Serwus Burghausen“ den Winterbadegästen und Vereinsmitgliedern zur Verfügung stellt. Tobi zittert am ganzen Leib, sodass er kaum ruhig sitzen kann. Meine Füße und Finger kribbeln, als langsam das Taubheitsgefühl nachlässt.
Normalerweise ziehen sich die Eisschwimmer vor dem Aufwärmen in der Kabine komplett an, um ihren Körper langsam wieder auf Betriebstemperatur zu bringen. „Es ist wichtig, sich schonend aufzuwärmen“, erklärt Julia. „Wenn ich nach 15 Minuten im Eiswasser gleich eine heiße Dusche nehme, kann es passieren, dass sich die Gefäße zu schnell öffnen und sich das kalte mit dem warmen Blut vermischt. Der sogenannte Afterdrop ist gefährlich.“
Wahnsinn! Die Wettkampfstrecke sind 1.000 Meter
Tatsächlich würde ich mir in diesem Moment eine 90 Grad heiße finnische Sauna wünschen, die 60 Grad Celsius in der Kabine fühlen sich anfangs erstaunlich frostig an. „Wenn wir größere Distanzen wie 450 oder gar 1.000 Meter schwimmen, müssen wir uns danach mindestens 45 Minuten lang in der Kabine aufwärmen“, sagt Julia.
Während der Wettkampfvorbereitungen gehen Julia und Tobi mehrmals wöchentlich ins Eiswasser. Zusätzlich trainieren sie ihre Distanzen im Hallenbad. Serwus Burghausen baut mit Unterstützung der Stadt Burghausen jedes Jahr vor Wintereinbruch die Eisschwimmarena im Wöhrsee auf. Eine Umwälzpumpe sorgt im Trainingsbecken dafür, dass die Wasseroberfläche nicht zufriert.
Julia war schon während ihrer Schulzeit begeisterte Schwimmerin und Leistungssportlerin. Der Langstreckenschwimmer Christof Wandratsch, der damals das Eisschwimmen nach Deutschland brachte, überredete sie vor acht Jahren zum Winterschwimmen im Wöhrsee. Nur etwa zwei Wochen nach ihrem ersten Versuch trat sie im Januar 2015 bei den Deutschen Meisterschaften an und gewann die kurzen Strecken.
Vorsicht, Kältehammer
Zwei Jahre später fanden in Burghausen die Weltmeisterschaften statt. „Ich wollte unbedingt bei der WM dabei sein, aber ich wusste auch, dass ich von der Spritzigkeit her nicht gegen Anfang-Zwanzig-Jährige antreten kann. Ich musste das also mit meiner Kälteresistenz wettmachen“, erzählt Julia. Während bei allen anderen Schwimmern auf den langen Distanzen irgendwann „der Kältehammer einschlug“, konnte die Mittvierzigerin ihre Geschwindigkeit meistens gut halten und so den Sieg einschwimmen.
Je nach Wassertemperatur lässt die „International Winter Swimming Association“ (IWSA) unterschiedliche Distanzen zu: Bei einer Wassertemperatur von unter zwei Grad gilt eine maximale Streckenlänge von 200 Metern. Bei „wärmeren“ Temperaturen legen die Schwimmer bis zu 1.000 Meter zurück.
Dank ihrer Kälteresistenz und ihrer mentalen Stärke bricht Julia – trotz ihres stressigen Jobs als Konrektorin einer Grundschule – noch immer Zeitrekorde auf den Langstrecken. Zuletzt beim IWSA World Cup im Dezember 2022: Rund 150 Teilnehmer aus siebzehn Ländern schwammen im Wöhrsee um die Wette, darunter auch Tobi und Julia.
Tobi belegte bei den Sprints (25 und 50 Meter Freistil und Brust) jeweils den ersten Platz in seiner Altersklasse. Julia stellte mit 5:48 Minuten für 450 Meter Freistil einen neuen Weltrekord in ihrer Altersklasse auf.
Kampf gegen den Schweinehund
Aber warum tut man sich die Friererei freiwillig an? „Das ist einfach etwas Verrücktes und Besonderes. Im Sommer kann jeder schwimmen, im Winter muss man sich erst überwinden“, erklärt Hobby-Eisbaderin Steffi lachend. Unterdessen pustet Tobi in den Sensor der Infrarotkabine, um ihn zu überlisten, damit die Heizung im Hochbetrieb bleibt.
„Ich war früher eine echte Frostbeule! Seit ich das mache, bin ich nicht mehr so verfroren“
„Ich war früher eine echte Frostbeule! Seit ich das mache, bin ich nicht mehr so verfroren“, sagt Steffi, die ab September ins Wasser steigt und sich im Sommer lieber sonnt. „Ich schlafe selbst im Winter mit einer Sommerdecke. Mein Körper hat sich auch umgestellt“, bestätigt Julia. „Und ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt einen grippalen Infekt hatte.“
Studien belegen, dass kurze Kältereize wie regelmäßiges Eisbaden oder Wechselduschen das Immunsystem stimulieren und kälteresistenter machen. Trotzdem halte der Kampf gegen den inneren Schweinehund weiter an, erklären alle drei Eisschwimmer.
Kälteschmerz und Euphorie
Julia ist schon auf dem Fußweg zur Wöhrsee Arena, durch tunnelartige Gänge entlang der Burgmauern, voll auf ihr Vorhaben fokussiert. „Mich zwingt keiner und ich könnte eigentlich schön zu Hause bleiben. Aber genau das ist es! Du machst das freiwillig, du kommst aus der Komfortzone raus. Und du weißt: Es ist unangenehm, aber du schaffst das“, erzählt Julia.
„Bei drei Grad Wassertemperatur ist der Kälteschmerz in den Fingern und Zehen schon brutal. Dann spürst du nur noch deinen Körper und kannst an nichts anderes denken. Das katapultiert dich so ins Hier und Jetzt, da bist du automatisch entschleunigt“, sagt sie.
Aber auch die Euphorie nach dem Schwimmen und das wohlige Gefühl, wenn die Wärme zurück in den Körper kriecht, gehören zu diesem Sport dazu. „Dabei rücken die Grundbedürfnisse wieder in den Fokus. Einfach nur die Wärme spüren und erfahren, wie schön es ist, nicht frieren zu müssen“, schwärmt Julia.
Auf zur zweiten Runde
Ja, nicht frieren fühlt sich besser an als frieren. Nach der ersten Runde Aufwärmen steht die zweite Runde Eisschwimmen an. Diesmal schaffe ich ein paar Züge mehr, aber während die anderen zur Badeinsel schwimmen, stehe ich schon wieder bibbernd an Land. Beim Rückmarsch zur Wärmekabine wirkt mein Hirn wie eingefroren. Im Gespräch finde ich nicht die richtigen Worte. Ist das normal?
„Wenn die Schwimmer bei den Wettkämpfen angesprochen werden, antworten sie manchmal erst nach 50 Metern, weil sie so lange überlegen müssen“, sagt Tobi, als er später bebend neben mir in der Kabine sitzt. Nach der dritten Runde Eisbaden und Aufwärmen fühlt sich mein Geist wieder taufrisch an.
„Ich bin frei, endlich frei. Die Kälte ist nun ein Teil von mir“, trällern Julia und Steffi zum Abschied. „Das ist der Song aus Disneys Eisprinzessin – unser Motto!“, scherzen sie, bevor sie sich dick eingepackt auf ihre Fahrräder schwingen. Frostprobe bestanden, ich will mehr davon.
Eisbaden für Anfänger
- Ärztlicher Check vor dem ersten Eisbad
- Immer in Begeleitung zum Eisschwimmen gehen
- Im Herbst beginnen und langsam in den Winter vorarbeiten
- Ruhig und konzentriert atmen, nicht hyperventilieren
- Mütze auf den Kopf, nicht untertauchen
- Nicht gestresst, übermüdet oder erkältet ins kalte Wasser gehen
- Kleider eventuell vorwärmen, mit einer heißen Wärmflasche
- Heißes (alkoholfreies) Getränk in der Thermoskanne mitnehmen
Eisbaden ausprobieren?
Die Winterbadestelle Wöhrsee in Burghausen ist von Mitte Oktober bis Ende März öffentlich zugänglich.