Eine tausendjährige Historie, eine clevere Gräfin und feiernde Chorherren, UNESCO-Biosphärenreservat und lebendiger Markt. Ausreichend Gründe, Berchtesgaden einen längeren Besuch abzustatten
Sehenswertes in Berchtesgaden
Vielleicht nervten Gräfin Irmingard von Sulzbach die ständigen Jagdausflüge ihres Gatten Graf Gebhard II. Vielleicht war sie aber auch froh über das Wildbret, das er von seinen Streifzügen im Schatten von Watzmann und Kehlstein mitbrachte und das auf der Burg Sulzbach Abwechslung von der ewigen Getreidegrütze bot.
Doch Mitte des 11. Jahrhunderts verunglückte Gebhard II., doch die Gräfin erreichte keine Nachricht vom Ableben des Gatten, und das über mehrere Wochen. Währenddessen legte sie das Gelübde ab, ein Kloster zu bauen, wenn Gebhard II. nur wieder heimkehre.
Gebhard II. erschien dann wohl wie Odysseus persönlich plötzlich wieder im Burghof. Genau dort, wo er den Jagdunfall erlitten hatte, entstand später die Stiftskirche von Berchtesgaden, erbaut von Sohn Berengar, der das Gelübde seiner Mutter einlöste. So will es die Legende um das Chorherrenstift.
Mönche, die Angst vor Drachen haben
Die ersten Augustinermönche begannen mit einer ärmlichen Behausung, aus der sich über die Jahrhunderte eine Propstei und später das Königliche Schloss entwickelte. Das steht nur wenige Meter vom Marktplatz mit seinen fassadenbemalten Häusern.
Wo heute Besucher der „Watzmann Therme“ im warmen Solewasser planschen oder im „Haus der Berge“ die vertikale Wildnis des Nationalparks erleben, fanden die Mönche „furchtbaren Wald und schneestarrende Einöde“ vor, in der sie sogar eine Brutstätte für Drachen vermuteten, wie in ihren Schriften zu lesen ist.
Auf ein „Glaserl“ Enzian zur Alm
„Nach einem Glaserl Enzian kommst du mit jedem Drachen zurecht“, sagt Bergbrenner Max Irlinger auf der Priesbergalm. Authentischer als auf dessen Holzbank vor der Hütte im Jennergebiet oberhalb von Berchtesgaden lässt sich der Enzian kaum trinken.
„Nach einem Glaserl Enzian kommst du mit jedem Drachen zurecht.“
Während Max in der kleinen Brennstube die hochprozentige Spirituose herstellt und immer wieder Holzscheite nachlegt, um die Brennblase zu heizen, schenken sich Wanderer aus den vom Brunnenwasser gekühlten Enzianflaschen selbst ein und werfen die Zeche in ein Kästchen.
Im Tal liegt der Enzianshop der Bergbrennerei Grassl direkt gegenüber von Königlichem Schloss und Stiftskirche. Sehr wahrscheinlich haben nicht nur die Pröpste und Chorherren, sondern auch die Wittelsbacher gern von der alkoholsatten Essenz der Alpinwurzel getrunken.
Altstadt und Kalvarienberg
Ein Torbogen trennt das Schloss von der Fußgängerzone mit Marktplatz und -brunnen, dessen Erbauung auf das Jahr 1558 zurückgeht. Dahinter beginnen die Gassen der Altstadt, die sich entlang des Kalvarienberges ziehen. Vor prächtig bemalten Hausfassaden mit geranienumrankten Holzbalkonen hat sich vor der Eisdiele eine lange Schlange gebildet. Weiter in der Gasse stehen Kleiderständer von Mode- und Outdoorgeschäften auf dem Kopfsteinpflaster, Sonnenbebrillte trinken Spritz und Cappuccino, Mountainbiker füllen ihre Flaschen am Brunnen.
Die Region wurde zwar schon seit der Jungsteinzeit von Menschen durchstreift und im frühen Mittelalter von Adeligen zur Jagd genutzt, aber sesshaft wurde dort zunächst niemand. Seinen Namen verdankt der Markt, der nur 25 Kilometer von Salzburg entfernt liegt, dem Grafen Perther, der dort eine kleine Hütte, im Mittelhochdeutschen „Gaden“, unterhielt. Aus Perthers Gaden entwickelte sich später Berchtesgaden.
Clevere Gräfin gegen gierige Erzbischöfe
Geografisch und historisch interessant ist, dass die Region im Südosten Bayerns in das österreichische Staatsgebiet hineinragt. Gräfin Irmingard wusste, dass ihr Jagdareal von den Salzburger Erzbischöfen begehrt wurde. Um sich deren Gier langfristig zu widersetzen, bediente sie sich eines Tricks: Sie stellte das gesamte Stiftungsland des Chorherrenstifts unter den Schutz von Papst und Kaiser. Damit wurde die Propstei über Jahrhunderte das kleinste selbstständige Kirchenland im Heiligen Römischen Reich.
Irmingard wusste allerdings nicht, dass die Mönche, die die Stiftungsurkunde schrieben, der Propstei auch das Bergrecht hinzufügten. Bald darauf befreite der Papst das Stift vom Zehnt und der Kaiser erteilte das Salzregal, das Recht zur Salzgewinnung. Die Salzburger müssen getobt haben, als sie von Irmingards Kniff erfuhren, aber gegen den Papst wandten sie sich nicht offen.
Ende des 12. Jahrhunderts wurde mit dem Abbau und Handel des „weißen Goldes“ begonnen
Salz bringt Reichtum
Bei Ungemach rief das Stift nach Kaiser und Papst, schloss die Grenzen und hielt sich so die Pest und den Dreißigjährigen Krieg vom Leib. So hatten die Chorherren einerseits Schutz von oben und kamen andererseits durch Salzgewinnung zu Reichtum. Schon Ende des 12. Jahrhunderts wurde mit dem Abbau und Handel des „weißen Goldes“, das für die Haltbarmachung von Lebensmittel wichtig war, begonnen. Seit 1517 fördert das älteste in Deutschland betriebene Salzbergwerk den Rohstoff.
Bis 1803 herrschten die Pröpste. Während der Säkularisation übernahm dann das Haus Wittelsbach das Stiftungsland, beendete die Unabhängigkeit und nutzte die Fürstpröpstliche Residenz bis zum Ersten Weltkrieg als Sommer- und Jagdsitz.
Dunkle Schatten auf dem Kehlstein
Oberhalb der Villen, die die Chorherren für sich und ihre Geliebten rund um den Kalvarienberg erbauen ließen, errichtete Georg von Reichenbach ab 1816 mit großer Ingenieurskunst eine Holzleitung, die das stärker mit Salz gesättigte Solewasser Berchtesgadens nach Bad Reichenhall transportierte, um die dortige Salzqualität zu erhöhen. Entlang der ehemaligen Trasse führt heute der Soleleitungsweg mit Blick über die Dächer Berchtesgadens sowie auf Jenner, Watzmann und zum Kehlstein.
Dieser Berg respektive dessen Vorberg ist auf fatale Weise mit Adolf Hitler verbunden, der in Berchtesgaden in den 1920er-Jahren zunächst seinen antisemitischen Mentor Dietrich Eckart besuchte, später die Bewohner vom Obersalzberg vertrieb oder ins KZ schickte und das „Führersperrgebiet“ am Kehlstein mit größenwahnsinnigen Bauprojekten zubetonieren ließ.
Die Dauerausstellung der Dokumentation Obersalzberg informiert über die Geschichte dieses historischen Ortes, an dem die wundervolle Landschaft eng mit den Schrecken der NS-Herrschaft verbunden ist.
Vertikale Wildnis in der Bergvitrine
Vom Kehlstein aus wirkt Berchtesgaden eher wie ein oberbayerisches Dorf als eine Marktgemeinde mit knapp 8.000 Einwohnern. Zwischen dem geschwungenen Lauf der Königsseer Ache und den bewaldeten Hängen von Kälberstein und Lockstein liegen Häuser und Gassen in einem schmalen Streifen.
In den Fenstern des modernen Nationalparkzentrums „Haus der Berge“ reflektieren Sonnenstrahlen und spiegeln sich die umliegende Bergwelt, Kirchtürme, Giebel und Gaubendächer. Das holzverkleidete Gebäude wird von der „Bergvitrine“ überragt, einem gewaltigen Kubus aus Glas und Stahl, der die interaktive Ausstellung „Vertikale Wildnis“ beherbergt.
Auf mehreren Etagen wird die Bergwelt des Nationalparks und UNESCO-Biosphärenreservats von den Tiefen des Königssees bis hinauf zu den baumfreien Gipfeln interaktiv dargestellt. Projektionen auf baumförmigen Flächen und Zeitrafferaufnahmen visualisieren den Wandel der Jahreszeiten im Bergwald. Oben angekommen, öffnet sich ein faszinierender Blick durch 15 Meter hohe Panoramafenster auf das Watzmann-Massiv.
Vom Hirschenhaus zum Nonntal
Weniger interaktiv, aber trotzdem beeindruckend zeigt die Fassade des Hirschenhauses, an der Ecke zum Marktplatz, was Hauseigentümer Georg Labermair Anfang des 17. Jahrhunderts von den Chorherren hielt: Die Fassade in der Metzgerstraße zieren Bilder von Affen bei allerlei Vergnügungen.
Es wird ausgiebig gezecht und musiziert, ein Affe lässt sich auf einem mit einem Weinfass beladenen Schlitten von Menschen ziehen, weibliche und männliche Affen tanzen miteinander. Die Affen symbolisieren die adeligen Chorherren, die mit zunehmendem Reichtum ihrer Propstei immer weniger am Gebet als an weltlichen Genüssen interessiert waren.
Wenngleich die Bilder nur einen Steinwurf vom Kloster entfernt sind, gab es keinen Ärger. Zwischen den Häusern der Metzgerstraße lag ein offener Graben, in den die Schlachtabfälle geworfen wurden. Kein Chorherr verirrte sich in diese stinkende Ecke, sie orientierten sich zum Marktplatz, ins Nonntal oder den Kalvarienberg hinauf.
Aperitivo vor dem Schlossplatz
Kurz vor dem Durchgang zum Schlossplatz mit der neoromanischen Fassade der Stiftskirche und dem Kreuzgang aus dem 12. Jahrhundert genießen die Gäste eines italienischen Feinkostgeschäfts ihren Aperitivo unter ausladenden Bäumen. Italienische Schlager konkurrieren mit Vogelgezwitscher, Kinder spielen Fußball, Antipasti machen die Runde.
Hinter dem Schlossplatz beginnt das ruhige Nonntal mit einer Reihe imposanter Bürgerhäuser. In den Erdgeschossen finden sich feine Lokale, eine Schokoladenmanufaktur mit im Sommer begehrten Liegestuhlplätzen, eine Vinothek und ein Yogastudio.
Hoch zum Lockstein!
Von dort führt ein schmaler Steig zum Lockstein und zur Weinfeldkapelle. Wer mehr Kondition hat, wandert über Wiesen weiter bergauf bis zu den Sprungschanzen am Kälberstein oder auf der anderen Seite bergab bis zum Naturbad Aschauerweiher, von dessen Liegewiese aus die grau-weißen Steilwände des Watzmann zu sehen sind.
Vielleicht bleibt man aber auch einfach am Lockstein, liegt unter Obstbäumen zwischen herumstreunenden Ziegen und lässt sich von einem Haflinger beschnuppern. Hier oben, nur fünf Minuten vom lebendigen Marktplatz entfernt, regiert plötzlich ländliches Idyll: brummende Hummeln, alte Bauernhäuser mit Holzbalkonen, wildromantische Gärten und große Stapel Feuerholz. Aperitivo und betörende Ruhe – Berchtesgaden kann eben beides.