Fusion zwischen Allgäu und Fernost: Küchenchefin Nina Meyer zaubert in Balderschwang Verrückt-Ausgefallenes auf den Teller. Wir begleiteten sie zwischen Herdplatte und Höhenweg, Backofen und Bachlauf
Bio-Spitzenköchin Nina Meyer im Porträt
Nina Meyer ist immer wieder überwältigt von der Schönheit ihrer Heimat. Vor allem an Tagen wie diesen, wenn sich der Herbst von seiner sanften Seite zeigt. Meist zieht sie schon früh morgens mit ihrem Hund los und dreht eine kleine Runde. „Zum Krafttanken und Energieeinsammeln“ und zur Inspiration. Meist geht Nina dazu den Balderschwanger Höhenweg entlang, der hinterm Haus vorbeiführt.
Vom insgesamt fünf Kilometer langen Höhenweg aus eröffnet sich ein mächtiges Panorama: Richtung Riedbergpass im Osten, weit in die Schweiz im Westen, mit dem wuchtigen Säntis am Horizont. Und der Hohe Ifen? „Da hinten der markante Felsen“, sagt Nina und deutet Richtung Süden, „in direkter Linie über der Fuchsalm. Das ist er.“ Der Namenspatron ihres Hotels, der 2.230 Meter hohe Ifen.
„Balderschwang hat nix –
aber davon sehr viel“
Balderschwang ist eines der fünf Allgäuer Hörnerdörfer. Mit 400 Einwohnern ist es eine der kleinsten Gemeinden Bayerns und rühmt sich des höchstgelegenen Ortskerns in Deutschland. „Ansonsten hat Balderschwang nix“, sagt Nina, „aber davon sehr viel.“ Ein Ort, der sich reduziert auf Ruhe und Erholung. Wer nachts das Fenster öffnet, hört nur das Rauschen der Stille und ab und an die Kuhglocken von der Weide nebenan.
Träume von Schauspiel- oder Modedesign- Laufbahn. Aber auf gar keinen Fall von einer Karriere als Köchin
Nina ist in einem Haus aufgewachsen, das in den 1930ern erbaut wurde und lange ein Feriendomizil für Angestellte und Beamte der Stadt Frankfurt war, später ein Kriegsversehrtenheim. 1966 kauften es die Großeltern Willi und Erika.
1981 kam Nina auf die Welt, als Ältestes von insgesamt vier Geschwistern. Die Teenagerin träumte von einer Laufbahn als Schauspielerin oder Modedesignerin. Aber auf gar keinen Fall, wie sie sagt, von einer Karriere als Köchin.
Schnitzel, Pommes, Pudding:
Trendküche anno 1970
Die 1970er leben wieder auf, wenn Nina von der damaligen Speisekarte erzählt. Deftige Hausmannskost, Fleisch bis zum Abwinken. Braten, Schnitzel, dazu Knödel, Pommes.
Es war die BSE-Krise rund um die Jahrtausendwende, die bei ihrem Vater zu radikalem Umdenken führte, wie Nina erzählt: Schluss mit Fleisch aus Massentierhaltung, stattdessen stellte man auf Fleisch von Bio-Höfen aus der Umgebung um.
Nach dem Abschluss der Hotelfachschule in Bludenz, wo sie unter sechzig Absolventen als einzige Frau im Kochen die Note 1 bekam, und nach Stationen in Restaurants mit Hauben und Sternen sowie einer weiteren Ausbildung in Zürich kam Nina zurück ins Allgäu.
Regelmäßig stand sie im „Ifenblick“ in der Küche. Und doch schmeckte sie auch woanders hinein: Sie gab Snowboard-Kurse, unterrichtete Hauswirtschaftslehre an der Montessorischule in Sonthofen und zog dazu noch alleinerziehend ihre beiden Kinder auf.
Dampfnudel mit Pulled Goat:
Ninas neue Crossover-Küche
2019 und damit fünf Jahre, nachdem ihre Schwester Bianca das Hotel von den Eltern übernommen hatte, wurde Nina Küchenchefin. Erst war noch eine Übergangsphase im Miteinander mit Papa Bernd angedacht. Der Vater zog sich dann aber schnell zurück... und staunte nicht schlecht über die wild-kühnen Kreationen seiner Tochter: Kässpätzle mit Misozwiebeln und Bratapfel, glasierte Auberginen in einer Marinade aus Zuckerrübensirup, Mirin- und Sojasoße, Dampfnudel auf Aprikosenkompott mit einer „zupften Goiß“ (pulled goat) oder Buchteln, gefüllt mit Sonnenblumenhack.
Selbst der Hohe Ifen dürfte beim Blick auf Balderschwang gestaunt haben, wie da unten in der Küche plötzlich der Punk abging. Five-Spice-Gemisch aus Zimt und Fenchel, Szechuan-Pfeffer, Mandarinenschale und Sternanis.
In der Küche ging plötzlich der Punk ab.
Der „Ifenblick“ ist und bleibt fest in Familienhand. Tante Susi kommt manchmal zum Aushelfen in die Küche, Papa Bernd mischt als Küchenmeister tatkräftig mit. Bruder Sebastian sorgt für frisches Brot und Semmeln. Sebastians Frau Raja steht als gelernte Köchin zweimal in der Woche Nina zur Seite.
Wie Bildhauer und Holzschnitzer:
Die Gerichte als eigenes Kunstwerk
Der Clou an Ninas Küchenphilosophie ist, dass die Zutaten nicht sinnlos zusammengewürfelt werden, nur damit ein Gericht frech daherkommt. Es ist alles perfekt aufeinander abgestimmt. Und schmeckt wahnsinnig gut. Was bei unserer morgendlichen Wanderung auf dem Balderschwanger Höhenweg zwischendrin die Frage aufwirft, wie Nina wisse, was womit kombiniert werden kann. Was zusammenpasst und was nicht.
Wir spazieren gerade am Sägebachtobel vorbei, einer kleinen Schlucht, die sich im Lauf der Jahrtausende ins Nagelfluhgestein gegraben hat, als sie sagt: „Ich seh’s einfach. So wie ein Holzschnitzer bei einem Baumstamm genau die Figur erkennt, die er herausschnitzt. So wie ein Bildhauer die Skulptur sieht, die er aus einem Marmorblock herausklopft. So sehe ich die fertigen Gerichte, wenn ich die Einzelelemente vor mir habe.“
Ninas Kochbuch:
Mett, Dim Sum und Kässpätzle
Ende Oktober 2023 stand Nina in „The Taste“ vor der Kamera, der neuesten Staffel der Kochshow auf Joyn+ und Sat.1. Gleich bei ihrem Debüt verzückte sie den Zwei-Sterne-Koch Tim Raue, dessen Berliner „Restaurant Tim Raue“ zu den fünfzig besten Restaurants der Welt zählt, mit ihrer Kreation chinesischer Kristallklößchen so sehr, dass er vor ihr in die Knie ging. „Das hat mich sehr berührt und stolz gemacht, ein unglaubliches Gefühl“, meinte Nina dazu später.
Kurz davor erschien das erste Kochbuch der Bio-Spitzenköchin. „Zwischen Mett, Dim Sum und Kässpätzle“ spiegelt ihr kulinarisches Crossover-Konzept zwischen den ostwestfälischen Wurzeln ihres Vaters, der Küche aus Fernost und der Allgäuer Heimat wider. Mit Gerichten wie Kimchi-Krautkrapfen mit Gemüsejus und Spiegeleiern. Oder einem Wirsing-Curry mit Kartoffeln und Kichererbsen. Aber dann einfach auch Rinderrouladen mit Rotkraut und Kartoffelknödel.
„Zwischen Mett, Dim Sum und Kässpätzle“ spiegelt ihr kulinarisches Crossover-Konzept wider.
Nina genießt den täglichen Kontakt mit ihren Gästen wie auch mit ihren Zulieferern. Da ist etwa Tobias Ruppaner, von dessen Biohof hinter Immenstadt sie alle vier Wochen ein Kalb bekommt. Pia Kessler liefert Nina Rotkohl, Mangold, Zucchini und vieles mehr. Jäger Stefan Pfefferle bringt das Fleisch des von ihm frisch erlegten Rotwilds persönlich vorbei. Mit seiner Statur und seinem feschen Waidmannsgwand wirkt er wie aus einem alten Heimatfilm.
Die Bolgenach: Ninas Kraftort seit Kindertagen
In den freien Stunden zieht es Nina hinauf auf den Höhenweg oder hinunter an die Bolgenach. Der kleine Bach entspringt südlich vom Riedberger Horn und mündet in die Weißach, einen Zufluss des Bodensees. Das Ufer der Bolgenach, direkt neben dem Spielplatz und der öffentlichen Grillstelle, ist seit langer Zeit ein Kraftort für Nina.
Als Kind war sie dort oft mit ihren Geschwistern zum Pritscheln und zum Baden in den Gumpen. Jetzt planscht ihr Hund im Wasser, den sie in Anlehnung an die Harry-Potter-Saga Mr. Weasley nannte.
„Beständig ist doch nur die Veränderung.“ Alles im Fluss. Alles in der Bolgenach.
Ob sie mal in New York arbeiten wird, in London oder Tokio? Wer weiß das schon. Sie am allerwenigsten. Nina wirft Mr. Weasley noch einen letzten Stein zum Apportieren ins Wasser und stellt fest: „Beständig ist doch nur die Veränderung.“ Alles im Fluss. Alles in der Bolgenach. Alles so beständig wie der Hohe Ifen hinter der Fuchsalm.