Grauer Eternit, Waschbeton, sinistre Fassaden, Trabantensiedlung. Nürnberg-Besucher machten einen großen Bogen um den Stadtteil Langwasser. Das Projekt „Betonliebe“ brachte Farbe ins Viertel. Wir sahen uns dort und vor dem längsten Mural Bayerns in Fürth um
Projekt „Betonliebe“: Street-Art in Nürnberg Langwasser
Die alte Frau wirkt tiefenentspannt, fast glücklich. Mit ihrem roten Poncho, den lila Haaren und den Falten, die als tiefe Furchen durch ihr verwittertes Gesicht ziehen und auf ein bewegtes Leben hindeuten.
Ihr Lächeln ist so bemerkenswert wie die Leichtigkeit, mit der sie diesen so voll beladenen Korb auf ihrem Rücken trägt. Der ist schwer bepackt mit Ghettoblastern und Pizzastücken, einer chinesischen Winkekatze und einer russischen Matrjoschka. Dahinter ragt eine Reihe Hochhäuser empor, links daneben das Wahrzeichen der Hauptstadt Frankens: der Turm der Nürnberger Burg.
Ein ziemlich surreales Sammelsurium schleppt die Dame da mit sich herum – auf diesem zehn Meter hohen Wandgemälde an der Feulnerstraße. Das gigantische Wimmelbild „Die Wanderin“ ist das berühmteste Kunstwerk der Dauerausstellung unter dem Himmel von Langwasser.
Langwasser: Frankens Bronx?
Ein Frühlingstag in Nürnbergs Südosten. Frisch pfeift der Wind durch die Glogauer Straße. Dort erzählen Schautafeln die Geschichte des Stadtviertels. Die einstige Brachfläche wurde vom NS-Regime als Massenzeltlager für die Teilnehmer der Reichsparteitage genutzt. Nach 1945 stand dort das Valka-Lager, die größte Sammelunterkunft Bayerns für „Displaced Persons“, für heimatlose Ausländer, Ostflüchtlinge, ehemalige Zwangsarbeiter und befreite KZ-Häftlinge.
Langwasser ist ein Ort, der in kaum einem Reiseführer auftaucht
Die Stadt begann in den 1950ern mit dem Bau eines neuen Stadtteils für bis zu 40.000 Menschen. Mit Hochhäusern und Plattenbausiedlungen, die durchzogen von Parkanlagen und am Rande des Reichswalds im Süden eine hohe Lebensqualität garantieren sollten. Die Vision der Viertelplaner: „Wohnen im Grünen“.
In Sachen Image und in der Außendarstellung entwickelte sich mit der Zeit eher ein Wohnen im Grauen. Nicht nur farblich. Zu den schicken Sehenswürdigkeiten der Altstadt ist es mit der U-Bahn-Linie 1 zwar nur eine Viertelstunde Fahrzeit. Gefühlt aber liegen Welten dazwischen, Touristenbusse machen um die Gegend einen Bogen.
Langwasser ist ein Ort, der in kaum einem Reiseführer auftaucht, der dafür schon immer mit Vorurteilen und stereotypischen Klischees zu kämpfen hat. Problemviertel, Ghetto, die fränkische Bronx und Nürnbergs Banlieue – solche Sachen hören sie hier oft.
Langwasser ist bunt, auch seine Wände
Dabei engagieren sich hier viele Menschen seit Jahrzehnten für erfolgreiche Integration und gegen Kriminalität. Für eine farbenfrohe Vielfalt der Gesellschaft und an den Wänden.
Los ging das im September 2012, als 800 Bürgerinnen und Bürger vor dem Gemeinschaftshaus am Heinrich-Böll-Platz gegen Fremdenhass und Rechtsextremismus demonstrierten. Schnell entwickelte sich daraus der Slogan Langwasser ist bunt“.
Hinter der stadtteilübergreifenden Kampagne „Nürnberg ist bunt“ standen der Bürgerverein Langwasser, die Jugendeinrichtung Geiza, das Zentrum aktiver Bürger (ZAB) sowie das Gemeinschaftshaus Langwasser, das für das Projekt Betonliebe federführend tätig ist.
Das Motto übernahm im Stadtteilforum auch der Arbeitskreis Street-Art, um sich ab 2014 für kunstvoll bemalte Hauswände und Fassaden einzusetzen. Der passende Name des Projekts für mehr Farbe im trüben Viertel: Betonliebe.
„Anfangs war es zäh, wir mussten viel Überzeugungsarbeit leisten“, sagt Anke Hacker, damals eine der Haupt-Kuratorinnen, „aber mit der Zeit wurde allen klar, wie sehr die Idee auch zu einer höheren Identifikation der Bevölkerung mit ihrem Wohnort führen würde.“ Die Kunst als Kitt im Kiez.
Seit August 2019 laden das Gemeinschaftshaus Langwasser und der AK Street-Art Langwasser lokale und internationale Streetart-Künstler dazu ein, ausgewählte Wände im Stadtteil zu gestalten.
Opus Magnum mit Drei im Weggla
Dank vieler Spenden und der Unterstützung des Eigentümers, des Immobilienunternehmens wbg, rückten ab 2019 die ersten Künstlerinnen und Künstler an. Große Namen wie der gebürtige Münchner und heute in Berlin lebende Armin Eßert-Mendocilla etwa, in der Szene bekannt als Nasca Uno. Viele Tage lang stand dieser auf der Hebebühne, um „Die Wanderin“ anzufertigen. Mit der lateinamerikanischen Tracht und den Anden im Hintergrund eine Hommage an seine peruanischen Wurzeln.
Ganz bewusst wollte er aber auch die Bewohner von Langwasser in seine Kunst miteinbeziehen. Immer wieder fragte Nasca Passanten auf der Straße, welche Gegenstände die alte Frau in ihrem Korb tragen sollte. Die Antworten packte er ihr dann auf den Rücken. Vom Lederfußball bis zur Balalaika, vom deftigen Eintopf bis zu Drei im Weggla. Kraut und Rüben. Ein Kessel Buntes mitten im Schmelztiegel.
„Da kannst stundenlang davorstehen“, sagt Werner Härtl am Fuße der Hausfassade, „und du findest immer wieder was Neues. Absolut faszinierend. Mit Recht das Flaggschiff dieser Galerie.“ Härtl, einer unserer Bayern-Insider, war früher in München selbst als Comic-Zeichner und Sprayer unterwegs, später zog er dann hinaus in die Voralpen, wo er in seinem Atelier in Reichersbeuern inzwischen vor allem Kunst aus Kuhmist kreiert.
Ghetto-Schick an der Tiefgarage
Dass Werner auf dem Land das Gespür für die Urban Art nicht verloren hat, zeigt sich beim Rundgang an diesem Vormittag. Zusammen mit Anke Hacker besuchen wir die mittlerweile rund dreißig farbigen Murals in den monochromen Häuserschluchten.
Immer wieder kommentiert Werner die Gemälde. Wie etwa die vom Londoner Duo Tizer & Shucks bemalte Tiefgarageneinfahrt an der Feulnerstraße: „Starke Old-School-Graffiti. Klassischer Ghetto-Schick.“ Die von den hiesigen Künstlern Julian Vogel, Highner und Cris Krieger in vier benachbarten Hausdurchgängen interpretierten Elemente Erde, Feuer, Wasser, Luft findet Härtl „ein ziemlich stimmiges Gesamtkonzept“.
Und er sagt auch, was ihm nicht ganz so gefällt. Wie das Gemälde des Nurban Art Kollektiv an der Rückseite des Edeka, auf dem sich neben Tierabbildungen auch Worte wie „lebendig“ und „alle gleich“ finden, als Appell für Toleranz und Gemeinschaft. „Solche Botschaften sind obsolet im Graffiti“, so sein Urteil, „hier fehlt die Meta-Ebene“ – um gleich nachzuschieben, dass das seine subjektive Sicht sei.
„Kunst ist ja immer im Dialog zwischen dem Künstler und dem Betrachter. Was ich in einem Werk sehe, ob es mir gefällt und wie es mich berührt, das ist zum Glück immer eine individuelle Interpretation.“ Ansichtssache eben. Das sei, wie er ergänzt, bei der Mona Lisa im Louvre nicht anders als hinterm Supermarkt in Langwasser.
Lost Places als Spielwiese zum Sprayen
An der Görlitzer Straße trifft Werner dann auf Philipp Hennecke. Philipp hat sich auf der Hausnummer 51 – in Co-Produktion mit seinem Mitstreiter Caploart – unter seinem Künstlernamen Soma275 mit einem Porträt eines pink gefärbten Albrecht Dürer verewigt.
Gemeinsam ziehen Werner und Philipp weiter in die Innenstadt, zu sogenannten Lost Places, alten verlassenen Gebäuden, in denen die Community viel freie Fläche zum Sprühen findet. Oder auch zu den Arbeiten im öffentlichen Raum, wie etwa an der Augustenstraße, wo Philipp im offiziellen Auftrag der Berufsschule eine graue Wand neu gestaltete.
Philipp ist ein Prototyp der neuen Sprayer-Generation, die sich früher nur heimlich bei Nacht treffen konnte, um illegal Güterzüge zu bemalen, Brückenunterführungen oder Tunnelwände. Heute gelten viele als angesagte Künstler, mit deren Werken sich das bürgerliche Milieu gern schmückt.
In Künstlerkreisen erzählt man sich gern die Geschichte, wie der Polizeipräsident einer bayerischen Großstadt einst einen renommierten Sprayer um eine Auftragsarbeit an seinem Haus bat – um ihn wenige Tage später bei einer illegalen Graffiti-Aktion festnehmen zu lassen.
Als Künstler in der fränkischen Street-Art-Szene gefragt ist auch Carlos Lorente, der damals die „Betonliebe“ mit betreute und nun zusammen mit Andreas Stahl an der Mauer des Fürther Grundigparks wartet. Auf dem Gelände residierte einst Unternehmer Max Grundig in einer stattlichen Villa. Nach deren Abriss 2012 entstand dort ein kleines Quartier mit 160 Wohnungen – und mit einer farblosen Mauer auf der Seite des Main-Donau-Kanals.
Kein Platz für Rassismus – und für Fußball
Im Mai 2021 fragte Gerold Hedrich als Inhaber der Hausverwaltung H&K seinen Mieter Andreas Stahl, ob sich diese Wand nicht eventuell für ein großes Street-Art-Gemälde eignen würde – der Auftakt für ein grandioses Kunstprojekt. Auch die Bewohner des Grundigparks waren begeistert, die zwölf Eigentümergemeinschaften steuerten beim Crowdfunding 18.000 Euro an Spenden bei, die Stadt Fürth half mit 5.000 Euro.
Hausverwalter und Eigentümer versorgten die Urban Artists mit Kaffee, Kuchen, Chili und Suppe
Damit finanzierte man Material, Übernachtung, Verpflegung und die überschaubare Gage der 32 Künstler, die an einem Wochenende im September 2022 der 250 Meter langen Wand mit ihren 800 Quadratmetern einen neuen Anstrich gaben.
Das Projekt wurde zu einem großen Happening. Hausverwalter und Eigentümer versorgten die Urban Artists teilweise auf Bollerwagen mit Kaffee, Kuchen, Chili und Suppe.
Die Künstler hatten freie Hand, die Vorgaben lauteten nur: Keine Beleidigung, kein Rassismus. Und kein Fußball. Bei der alten Rivalität zwischen Nürnberg und Fürth kompliziertes Terrain. Hätte nur recht zügig Übermalung und Schmiererei provoziert.
So ist die Grundig-Mauer bis heute unberührt, eine neue Sehenswürdigkeit der Stadt und auch ein Identifikationsfaktor. Vom Stolz der Bewohner auf ihre Wand spricht Carlos Lorente, der mit „Style Scouts“ 2012 die erste Graffiti-Akademie Deutschlands gründete – und der heute im Z-Bau, der früheren US-Kaserne am Nürnberger Südring, Kurse und Workshops gibt, um noch mehr junge Menschen für die Straßenkunst zu begeistern. Damit Franken noch bunter wird.
Loomits reduzierter Dürer-Hase
Am Rückweg nochmal ein kurzer Abstecher nach Langwasser. Fasziniert steht Werner Härtl an der Imbuschstraße vor dem Gemälde des Münchners Loomit, der seit Jahrzehnten in Deutschland als einflussreichster und bedeutendster Graffiti-Künstler gilt.
An der Wand zu sehen ist nur eine maskierte Figur, ihr direkt gegenüber der berühmte Dürer-Hase. Anders als bei der opulent ausgeschmückten Wanderin von Nasca Uno mehr eine Form der Minimal Street Art. „Als Freund der Reduktion finde ich auch dieses Werk außergewöhnlich“, sagt Härtl, „je länger man es betrachtet, desto intensiver wirkt es.“
Was man beim Abschied von Langwasser auf den letzten Metern dieses Tages beim Gang durch graues Gemäuer an der Giesberts- oder der Ratiborstraße erkennt: Es gibt noch viele kahle Hausfassaden, viel Fläche für neue Farben. Reichlich Spielraum für noch mehr Betonverliebtheit.