Wenn der Bach den Weg weist: Unterwegs im historischen Zentrum von Memmingen. Geschichte, Geschichten und Geheimnisse der alten Reichsstadt im Herzen von Bayerisch-Schwaben. Sehenswürdigkeiten und Geheimtipps für Stadturlauber
Memmingen entdecken
Nichts als Ärger zu Hause. Hat die Tochter doch allen Ernstes schon zum dritten Mal einen Mann abgelehnt, den man ihr zur Heirat anbot. Und das, wo sie doch schon 20 ist. Müsste längst unter der Haube sein, das Kind. Bei so trüben Gedanken täte ein bisschen Ablenkung ganz gut.
Mal zum Richtplatz schauen, der Aufgehängte heute soll ein recht dicker Mann gewesen sein. Vielleicht verkauft der Henker ja ein paar Gramm abgelassenes Altsünderfett. Hilft bekanntermaßen gegen Gicht und Zahnweh. Oder noch kurz rüber zum Hexenturm. Ob sie da wieder einen Ehebrecher ins Verließ geworfen haben ...?
Man kann sich der Stadt und ihrer Geschichte auch so nähern. Bei einem wunderbar unterhaltsamen Spaziergang mit Sabine Streck und Heidi Stölzle, die in alten Kostümen durch das Memmingen des 17. Jahrhunderts führen. Sie tun das als „Desperate Housewives im 17. Jahrhundert“. Ein Exkurs in eine recht ungemütliche Vergangenheit.
Memminger Ach als Guide
Um die Geheimnisse des heutigen Memmingen zu erkunden und den Charme dieser Stadt zu spüren, gibt es ganz andere Möglichkeiten. Der vielleicht beste Weg führt immer an der Memminger Ach entlang, dabei immer wieder links und rechts abzweigen. Der Stadtbach als Leitfaden – da kommt man leicht in Fluss.
Idealer Startpunkt ist die Steinbogenstraße, 100 Meter südlich des Bahnhofs, wo der junge Bach aus dem benachbarten Benninger Ried die Grenze zur Memminger Altstadt passiert. Linker Hand das Weberviertel, benannt nach den Handwerkern, die dort früher lebten und arbeiteten. Was die Weber woben, war ein wahrer Exportschlager in alle Welt. In gewisser Weise eine Art von World Wide Web.
Frauenkirche: Spätgotik mit Happy Hour
Gleich angrenzend die Frauenkirche, klassisch schwäbische Spätgotik. Eine der ältesten Kirchen in ganz Oberschwaben mit bemerkenswert modernem Programm: Neben den traditionellen Gottesdiensten gibt es immer wieder eine Happy Hour als Einladung an Menschen, denen Kirche und Glaube sonst eher fremd sind.
Der Stadtbach: Ruhepol und Kraftort
Weiter geht es am lieblich vor sich hin murmelnden Bach entlang, der sein Bett immer weiter in den historischen Kern der Stadt gräbt. Am Ende der Hirschgasse steht Christoph Baur, kurz bevor der Bach aus dem Sichtfeld verschwindet und unbeobachtet unter dem Schrannenplatz hindurchtreibt. Auch ein Bach braucht mal Zeit für sich.
Für Baur, der in Memmingen aufwuchs, ist der Stadtbach ein Ruhepol, ein Kraftort, ein Platz zum Energietanken. Oft kommt er in der Mittagspause her oder noch vor der Arbeit, er hat es ja nicht weit. Gleich nebenan in der Baumstraße, in den Gewölben eines Hauses aus dem 15. Jahrhundert leitet der Grafikdesigner seine Agentur „Pfandfrei“, einen kleinen Betrieb mit vier Mitarbeitern und einem breiten Portfolio an verschiedenen Kunden: vom kleinen Craft-Beer-Brauer bis zum großen Luxushotel in München. Dort, in München, lebte Baur auch zehn Jahre. 2006 aber kehrte er wieder zurück und gründete sein PR-Büro.
Der Fischertag lockt 40.000 Zuschauer
Natürlich sei das Leben in München großartig und spannend gewesen, sagt Baur. „Aber das hier, das ist halt doch die Heimat.“ Heimat, die für ihn bedeutet, am Dienstag und am Samstag an den Ständen des Wochenmarkts auf dem Marktplatz vorbeizuschlendern und sich zu verplaudern.
Heimat ist für Baur auch der alljährliche Böllerschuss am Samstag vor den Sommerferien um acht Uhr: Das Startsignal für die jahrhundertealte Tradition des Fischertags mit meist mehr als 1.000 Fischern und bis zu 40.000 Zuschauern. Heimat ist aber auch, wenn er an einem Werktag frühmorgens unterwegs ist und aus den vielen kleinen Bäckereien der Duft von frisch gebackenem Brot und Brezen durch die Gassen zieht.
Weiter zum Theaterplatz
Nach seiner Auszeit unter dem Schrannenplatz biegt der Bach in einer sanften Rechtskurve in die Obere Bachgasse ein. Rechts davon der Anfang der Fußgängerzone mit dem Theaterplatz, der 2010 mit dem umgestalteten Bauensemble „Neue Schranne“ ein ganz neues Erscheinungsbild bekam.
Am Weinmarkt steht ein schmaler, neun Meter hoher Turm aus zwölf aufeinandergestapelten Bronzetafeln: Der Freiheitsbrunnen des Künstlers Andy Brauneis erinnert an die zwölf Bauernartikel von 1525. Sie gelten nach der Magna Carta von 1215 als eine der ersten verschrifteten Forderungen nach Grund- und Menschenrechten. Vom Volk gerichtet an die Reichsstände des Schwäbischen Bunds.
Brunnen am Weinmarkt: Ein Hauch von Freiheit
Nachzulesen ist das Dutzend Artikel bei einem Rundgang um den eingravierten steinernen Sockel, während das Wasser nicht als Fontäne aus einem Trichter sprudelt, sondern sich aus unsichtbaren Düsen als sanfte Gischt in die Memminger Luft verflüchtigt. Ein Hauch von Freiheit.
Zurück am Bach durch die Untere Bachgasse und zur berühmten Kirche St. Martin, einem der bekanntesten Wahrzeichen Memmingens – und für die Kunsthandwerkerin Rita Fink vor allem ein Ort mit vielen Erinnerungen.
Kropfbänder, Armreifen und Muttergottes
Als Kind kam Rita Fink aus ihrem Dorf im Illerwinkel mit ihren Eltern nach Memmingen. Einmal im Jahr, vielleicht zweimal. „Der Ausflug war immer ein Höhepunkt“, sagt sie. Lieblingsort sei immer St. Martin gewesen, auch weil man an den Treppen so gut herumklettern konnte. Goldschmiedin hätte sie eigentlich werden wollen, aber es ergab sich nicht. Stattdessen machte sie eine Ausbildung in einer alteingesessenen Familien-Fleischerei.
"Mein Lieblingsort war immer St. Martin. Weil man an den Treppen so gut klettern konnte.
Vor 15 Jahren fand Fink zum Kunsthandwerk und begann mit der Fertigung von Trachtenschmuck: Haarnadeln, Armreifen, Kropfbänder und Broschen. Und mit Klosterarbeiten, Madonnenfiguren und Heiligenbildnissen, von der Muttergottes im Glassturz bis zum Jesuskind in der Spanschachtel.
Wenn sie einen winzigen Bouillondraht filigran zu einer bunten Rose für die Halskette drehe, dann sei das für sie wie Meditation. Und in eine tiefenentspannte Stimmung komme sie auch, wenn sie aus ihrem Wohnort Ungerhausen die sechs Kilometer nach Memmingen radelt und dort durch die Stadt streift.
Zu den Treppen von St. Martin, zum Zollergarten, diesem Grünflächen-Refugium im Norden der Altstadt, direkt hinter dem Rathaus, oder zu Roßmarkt und Schweizerberg, wo sie alljährlich am Frühlings-Markttag „Memmingen blüht“ an ihrem Stand steht. Für die Kunsthandwerkerin Fink ist Memmingen eine wahre Perle.
Die Jet-Set-Partys der Großzunft
Auf dem Weg zum Marktplatz, dem Herzstück der Stadt mit vielen Sehenswürdigkeiten, erzählt Streck dann noch weitere Anekdoten. Vom Siebendächerhaus, in dem die Gerber ihre Felle trockneten. Von der Blauen Saul, an die sich laut Überlieferung nach einer Zechtour ein Ratsherr angelehnt hatte, der so betrunken war, dass sich sogar die Säule blau einfärbte. Vom Prachtbau der Großzunft am Ende des Marktplatzes, in dem es die Gesellschaft „Zum Goldenen Löwen“ als elitärer Jet-Set-Klüngel bei Gelagen krachen ließ.
Zum Ulmer Tor
Weiter auf dem Weg durch die Ulmer Straße nach Norden, wo rechter Hand die einfachen Leute wohnten: Auf der Seite zum Kanal, der damals noch als schmutzig giftiges Rinnsal durch die Stadt trieb.
Anders als heute, wo der wunderbare Bach auf seinen letzten Metern durch die Altstadt Richtung Ulmer Tor schwingt und dann hinter der Stadtmauer verschwindet. Freilich könnte man der Memminger Ach noch 20 Kilometer bis zur Mündung in die Iller folgen. Oder man dreht um. Gibt ja noch viel Sehenswerteszu entdecken in Memmingen, links und rechts vom Bach.
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