Stadtwandern in Neu-Ulm: Zwei Flüsse. Zwei Donau-Ufer. Zwei Städte. Zwei Bundesländer. Verlaufen kann man sich unterwegs kaum. Den mit 161,53 Metern höchsten Kirchturm der Welt hat man dabei als Landmarke immer toll im Blick
Neu-Ulm: Stadtwanderung
Früh am Morgen sind wir schon reif für die Insel: Vor dem gerade einmal 400 Meter langen Eiland teilt sich der große Strom, wird zur „Großen Donau“ und zur „Kleinen Donau“.
Kurz danach am Schwal, dem Zusammenfluss, hieß es für ganze Generationen von Auswanderern, Abschied zu nehmen von der schönen Doppelstadt. Was wohl doppelt schmerzte, denn die Aussicht auf die Ulmer Altstadt mit ihrem Münster ist von der Insel aus phänomenal.
Mit den sogenannten Ulmer Schachteln ging es damals von hier aus zunächst nach Wien und weiter nach Südosteuropa. Was nach unansehnlicher Stadtbewohnerin klingt, war vom Mittelalter bis in die Neuzeit ein gängiger Bootstyp für Waren- und Truppentransporte. Die Ulmer Schachteln erinnerten an Wikingerschiffe, allerdings mit Kabine.
Heutzutage erfreuen sich die Gefährte als Ausflugsboote wieder großer Beliebtheit. Eine Tafel am Schwal verrät die Flusskilometer bis zur Donaumündung am Schwarzen Meer: 2.586. Doch wir bleiben heute hier und haben uns immerhin 14 Fußkilometer durch Neu-Ulm und das Pendant am anderen Ufer vorgenommen.
Während Ulm am baden-württembergischen Donau-Ufer für Fachwerkromantik rund um die höchste Kirche der Welt bekannt ist, geht es im bayerischen Neu-Ulm weitaus moderner zu. Das stellen wir schon auf den ersten Metern fest.
Der Maxplatz wurde im Rahmen der Landesgartenschau 1980 umgestaltet und erhielt dabei neben farbenfrohen Sitzmöbeln auch überdimensionale Sinnsprüche auf dem Asphalt verpasst.
St. Baptist: Die Raumschiff-Kirche
Gleich um die Ecke steht mit der Stadtpfarrkirche St. Johann Baptist ein Sakralbauwerk, das den ultimativen Gegenpol zum Ulmer Münster liefert.
In den 1920ern wurde der neoromanische Vorgängerbau aus der Mitte des 19. Jahrhunderts von dem Architekten Dominikus Böhm – einer Art Punk des Kirchenbaus – radikal umgebaut. Beeinflusst wurde die Umgestaltung vom Expressionismus jener Zeit.
Während die Fassade noch italienisch verspielt wirkt, dominiert im Inneren blanker Beton, den man selten so filigran gesehen hat wie in diesem riesigen Gewölbe, wo Licht und Schatten faszinierend über die Köpfe wandern. Erinnert man sich dort an Science-Fiction-Dystopien à la George Lucas oder Ridley Scott, ist das gar nicht mal so abwegig: Beide Filmemacher wurden inspiriert von Fritz Langs Zukunftsvision „Metropolis“, einem Film, der genau in jenen Jahren Blockbuster war, als Böhm den Kirchenbau gehörig umkrempelte.
An der Kirche beginnt auch die Lauschtour-Runde, mit der man sich spannend und sachkundig durch Neu-Ulm begleiten lassen kann – kostenlos in „Die Lauschtour-App“.
Wir wandern durch das beschauliche Villenviertel, das an jene Zeit erinnert, in der Neu-Ulm durch die Unterschrift von König Max I. 1811 zur politischen Gemeinde wurde und dort, wo die Ulmer vorher ihre Gärten hatten, an den Hauptstraßen die ersten Häuser entstanden.
Im Glacis-Stadtpark stoßen wir auf die Reste einer riesigen Wehranlage, die sich wie eine Endmoräne aus rotem Klinker bis vor die Weiher, Springbrunnen und Open-Air-Stage schiebt.
Begonnen mit dem Bau der Bundesfestung Ulm wurde 1844. Das polygonale Ungetüm nahm weite Teile beider Städte ein, die Wallanlage erstreckte sich über neun Kilometer Länge. Der Grund für den Bau der größten Festungsanlage auf dem Kontinent: ein kleiner Franzose mit nervigem Ego.
Glacis-Stadtpark: Napoleon gone & Art
Ganz Europa steckte der Napoleon-Schock in den Knochen, dessen Expansionswahn geschätzte 3,5 Millionen Menschen zum Opfer gefallen waren. Mit Festungsanlagen im Westen wollte sich der Deutsche Bund gegen Nachahmungstäter wappnen. Die Überbleibsel der Festung sind kaum mehr in Ulm, dafür umso mehr in Neu-Ulm zu sehen. Und sie liefern dort interessante Kontraste.
Ebenfalls für die Landesgartenschau entstand der Glacis-Stadtpark. Einen Kilometer lang und parallel zur Donau verlaufend, ist er die beliebteste grüne Lunge der Doppelstadt. An den Festungsmauern kriecht der Wilde Wein, schlängelt sich der Blauregen. Auf der Seebühne konkurrieren Stars aus aller Welt mit den Fröschen. Auch Sting war schon da. Objektkunst glänzt im Park unter den Baumriesen, Wasserfontänen machen heiße Stadtsommertage erträglich.
Wir gehen raus aus dem Park, vorbei an der Caponniere 4. Dieser Teil der Bundesfestung, der aussieht wie ein großer steinerner Lastkahn mit spitzem Bug, wurde saniert und steht mittlerweile in einem Wohngebiet aus farbenfrohen, stylischen Neubauten.
Viel Bunt: Street-Art an der Bücherei
Über die Ringstraßenbrücke, die sich elegant wie eine Baumnatter durchs Kronendach schlängelt, gelangen wir zum großen Mural an der Stadtbücherei. Erschaffen wurde die farbenfrohe Traumwelt von dem Graffiti-Künstler Philip Walch. Ein riesiges fliegendes Buch verliert auf dem Gemälde seinen Inhalt, Goethe kommt als Detektiv daher, eine Fee verschwindet im Büchertunnel und ein Astronaut greift schwebend im Weltall nach einem Schatz.
Ganz irdisch geht es weiter über die Bradleystraße in den Wiley-Park hinein. Unendliche Grasweiten, dazwischen Blumengärten mit Kiosk und gemütlichen Liegen, wo einstmals Atomraketen lagerten.
Wiley-Areal: Park statt Pershing
Das Wiley-Viertel war bis in die 1990er-Jahre ein großer amerikanischer Kasernenstandort. 23 Jahre lang lagerten dort auch Pershing-Raketen, mit denen sogar regelmäßig Übungen veranstaltet wurden. Dabei wurden die Ungetüme dann aufgestellt und ragten zeitweise über die Bäume der Gegend empor.
Die Szenerie heute ist dagegen gar nicht martialisch. Es gibt einen Spielplatz mit Wasserspielen, ein Beachvolleyball-Feld, Bolz- und Fußballplatz, Fitnessgeräte und eine Parklandschaft auf 18 Hektar. Die Studierenden der angrenzen Hochschule für angewandte Wissenschaften freuen sich über einen grünen Campus mit großer Objektkunst rund ums Gebäude.
Weiter geht es mit einem größeren Abstecher in die Iller-Auen. Das Flüsschen ist weitaus kleiner als die Donau, dafür aber zugänglicher. Wir machen Picknick auf einer der breiten Kiesbänke und schauen den Stand-up-Paddlern zu, die sich von hier aus flussabwärts bis zur Illerspitze treiben lassen, wo die Iller in die Donau mündet. Wir folgen ihnen und wechseln auf der Adenauerbrücke „rüber“ nach Ulm.
Fischerviertel Ulm: Fachwerk reloaded
Das Fischerviertel, zwischen Ulmer Münster und Donau gelegen, ist ein Fachwerk-Traum mit engen Gässchen, windschiefen Häusern und Brücken über dem Flüsschen Blau, das in früheren Zeiten gleich mehrere Mühlen antrieb. Im 19. Jahrhundert dienten im Quartier der Bootsleute, Gerber und Fischer die Häuser als Wohn- und Arbeitsstätten in einem.
Die Bewohner des Fischerviertels wurden „Räsen“ genannt
Die Bewohner des Fischerviertels wurden „Räsen“ genannt und galten als sonderbar und etwas eigensinnig. Die heutigen Bewohner werden Hipster genannt und freuen sich über Terrassen direkt am Wasser.
Dabei hätte die Geschichte auch schlimmer ausgehen können – mit Abrissbirne, so wie in vielen anderen Städten. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts waren die Häuser vom Verfall bedroht, erst recht nach dem Zweiten Weltkrieg. Ab den 1970er-Jahren erlebte die Gegend dann aber eine grandiose Wiederbelebung, als die ersten Gebäude auf private Initiative hin gerettet wurden.
Dem Ulmer Spatz, Wahrzeichen der Stadt, hat man an einer alten Mühle ein bronzenes Denkmal über dem Wasser gesetzt. Glaubt man der Sage, muss es eine Zeit gegeben haben, da waren die Ulmer Handwerker nicht die hellsten Kerzen auf der Torte. Beim Bau des Ulmer Münsters schafften sie es demnach nicht, große Holzbalken durch das Stadttor zu fahren. Als sie völlig entnervt das Tor schon abreißen wollten, sahen sie einen gewitzten Spatz, der elegant einen Zweig im Schnabel trug – längs und nicht quer! Das Tor war gerettet und das Ulmer Münster nahm bald darauf Gestalt an.
Ulmer Münster: Gotik ohne Ende
Die Mühe hat sich wahrlich gelohnt. 161,53 Meter misst der Turm bis zur Spitze. Erst die Sagrada Família in Barcelona wird das Münster einmal mit 170 Metern als höchste Kirche der Welt übertrumpfen – sollte sie jemals fertig werden ... Der weite Münsterplatz vor dem Bau bietet tolle Perspektiven auf den gotischen Wolkenkratzer, dessen Grundsteinlegung im Jahr 1377 stattfand.
Die Stadtpfarrkiche stand damals außerhalb der Stadtmauern, was jeden Kirchenbesuch zu einem Sicherheitsrisiko machte. Also entschied man sich für ein schmuckes Gotteshaus in der Stadt, das viele Baumeister-Generationen und mehr als ein halbes Jahrtausend später fertig wurde: Am 31. Mai 1890 wurde das letzte Klötzchen aufgesetzt.
Zehn Jahre zuvor war der Kölner Dom vollendet worden. Die Ulmer sattelten kurzerhand ein paar Meter drauf beim Münster und sicherten sich so den Titel der Weltrekord-Kirche, der bis heute Bestand hat.