Aschaffenburg liegt im nordwestlichsten Zipfel Bayerns. Die Stadt vereint das Beste mehrerer Regionen in Lebensstil und Küche. Schon König Ludwig I. nannte die Main-Gemeinde sein „Bayerisches Nizza“
Sehenswertes Aschaffenburg: Zwischen Leberkäse und Äppelwoi
„Wir hängen fest! Hast du deine Badehose dabei?“ Schon ein Dutzend Mal hat Jochen Grimm erfolglos den Haken ausgeworfen, mit dem er seine Reusen einholt. Doch schließlich klappt es: Der Mainfischer erwischt das Seil, an dem die Aalreusen aufgereiht sind, und zieht eine nach der anderen an Bord des langen Kahns – in einer von ihnen zappeln die ersten drei Fische des Tages.
Mit einem lauten Seufzer hievt er die letzte der zehn schweren Reusen an Bord. „Wirst du etwa alt?“, lästert sein Steuermann. „Das hoffe ich doch!“, kontert Jochen schlagfertig, und beide müssen grinsen – so klingt ein eingespieltes Team! Einmal in der Woche fahren die beiden auf den Fluss: Im Sommer fangen sie Aale, ab September fischen sie mit dem Netz Barsche, Hechte und Zander.
Mainfischer mit Leidenschaft
Jochen ist Fischer in 16. Generation. Als seine Familie im Jahr 1563 mit dem Handwerk begann, gab es das Schloss Johannisburg noch nicht, vor dessen prächtiger Kulisse wir heute unterwegs sind. „Mein Vater nahm mich als Kind immer als Steuermann mit – das entfachte die Leidenschaft für das Fischen und die Liebe zur Natur in mir“, erzählt Jochen, während er die nächsten Reusen sucht.
Vor dem imposanten Schloss wandern die Fische ins Netz, hinter dem Schloss in den Einkaufskorb. Jochen verkauft seinen Fang auf dem Aschaffenburger Wochenmarkt. An jedem Samstag lautet das Motto hier: Erst Shopping, dann „Schoppen“. Sind die Einkäufe erledigt, trifft man sich mit einem Glas Frankenwein – einem Schoppen – und einem Picknickkorb an der Balustrade der Schlossterrasse, um zu plauschen und den Blick über das Maintal zu genießen.
Lederhosen und hessischer Dialekt
Bis nach Frankfurt sind es von hier aus gerade mal 40 Kilometer, nach München dagegen 330: Aschaffenburg ist eine der nördlichsten Städte Bayerns. Die Einheimischen müssen deshalb in Gesprächen mit Fremden oftmals mit einigen Vorurteilen aufräumen: Nein, wir sind kein Vorort von Frankfurt! Nein, wir nennen uns in unserem Dialekt nicht „Aschenbecher“, sondern „Aschebärscher“. Und ja, wir sind echte Bayern – auch wenn die Münchner sich darüber amüsieren mögen.
Zur historischen Verwirrung trägt auch bei, dass Aschaffenburg ungefähr 850 Jahre lang Teil des Kurfürstentums Mainz war – zu Bayern gehört es erst seit dem Jahr 1814. Aus der Kurmainzer Zeit blieb der Dialekt erhalten, die Sprachforscher sehen in den Einheimischen deshalb „hessisch sprechende Franken“. Doch das Herz schlägt für Bayern, erkennbar nicht nur an der Lederhosen- und Dirndlquote bei Festen, sondern auch an der großen Fangemeinde des FC Bayern München.
Die Mainzer hinterließen der Stadt auch das Schloss mit seiner markanten roten Sandsteinfassade. Wir lassen uns durch die Säle mit den Gemälden der Bayerischen Staatsgemäldesammlung treiben, wo unter anderem auch Werke von Lucas Cranach d. Ä. hängen. Ungewöhnlich ist die Sammlung von Korkmodellen antiker römischer Architektur – eine Modeerscheinung des frühen 19. Jahrhunderts.
Glockenspieler im Schlossturm
Plötzlich erklingen Glocken aus dem Schlossturm: kein profanes Ding- Dong, sondern ein Film-Soundtrack, live gespielt von Georg Wagner. Fünf Carillons gibt es nur in Bayern, doch Aschaffenburg leistet sich als einzige Stadt einen eigenen Glockenspieler. „Das Carillon fasziniert mich so sehr, weil es ein komplett öffentliches Instrument ist“, sagt der Musiker. „Jeden Ton, den wir hier oben spielen, hört die ganze Stadt.“
Mindestens fünfmal im Jahr reist Georg an, um zu besonderen Anlässen zu spielen – eine Tradition aus Belgien und den Niederlanden, wo seit Jahrhunderten an den Markttagen Unterhaltungsmusik gespielt wurde. In einer kleinen Kabine im Schlossturm drückt der Carillonneur mit der Faust die Tasten herunter, die wie Besenstiele aussehen. Sie sind über Drähte mit den Glocken verbunden, jede zwischen zehn und 270 Kilo schwer.
„Man sollte nur Stücke spielen, die den meisten Leuten gefallen! Experimentelle Musik führt schnell zu Beschwerden“, erklärt Wagner und stimmt als Nächstes „Frère Jacques“ an. Vom Schlossplatz klingt lauter Gesang herauf: Ein paar Marktbesucher haben freudig in das Lied eingestimmt. Und am Ende folgt ein lauter Applaus für den Glockenspieler.
Nizza am Untermain
Nach der Hitze im Turm tauchen wir in die frische Luft im Schlossgarten ein und fühlen uns dabei gleich ein wenig ans Mittelmeer versetzt: Weinreben ranken über dem Arkadenweg zum sogenannten Frühstückstempel, Blauregen flutet über eine Pergola, dazwischen wachsen Mandel- und Zitronenbäume, Ginkgos, Feigen und Lavendel. Ein romantisches Brückchen führt über den Stadtgraben mit seiner schattigen Wildnis.
Die südlich anmutende Vegetation hat Tradition: Bayernkönig Ludwig I. nannte das sonnenverwöhnte Aschaffenburg gern sein „bayerisches Nizza“ und schuf sich hier eine idealtypische Mittelmeerlandschaft. Das absolute Glanzstück thront über den Weinbergen und dem Main: Mit dem Pompejanum, dem Nachbau einer römischen Villa, lebte der Monarch in der Mitte des 19. Jahrhunderts sein Interesse an den Ausgrabungen in Pompeji aus.
Römische Villa mit Belvedere
„Ludwig beschäftigte sich intensiv mit der Antike und wollte es authentisch haben“, erklärt uns Petra Harink. „Er schickte sogar Handwerker zum Erlernen der Techniken nach Italien.“ Die Stadtführerin findet es besonders spannend, bei ihrer Runde durch das Haus römische Alltagskultur zu vermitteln: Koch- und Essgewohnheiten oder die damalige Einstellung zu Liebe und Sexualität.
Es gibt einen typisch römischen Innenhof, prächtige Mosaiken, Esszimmer mit Speisesofas, Büsten der Kaiser und wandfüllende Fresken, in denen der Restaurator mit Schalk im Nacken einige Überraschungen versteckt hat. Ludwig I. hielt sich jedoch nicht ganz konsequent an die Historie: „Der Aufsatz auf dem Dach ist nicht authentisch, aber der König wollte unbedingt ein Belvedere haben“, sagt die Expertin.
Buntes Leben am Fluss
Verschiedene Wege führen aus dem Schlossgarten wieder ans Mainufer: Entweder geht man durch den städtischen Weinberg oder passiert den neuesten Hingucker der Stadt, den gläsernen Fahrstuhl mit Skywalk zwischen Schloss und Fluss.
„Mikado“ nennen die Einheimischen den Bau wegen seiner Verkleidung aus senkrechten, „verschränkten“ Holzbalken. Die Plattform in 14 Meter Höhe eröffnet vollkommen neue Perspektiven und Blicke auf den historischen Floßhafen sowie die Schlossterrasse.
Der Aufzug ist ein beliebter Treffpunkt bei Sonnenuntergang, erreicht man von hier doch in wenigen Schritten die Altstadt mit ihren Weinstuben in den Fachwerkhäusern oder einen Biergarten am Mainufer. Dort kann man in Liegestühlen das quirlige Leben auf dem Wasser beobachten, wo Hausboote tuckern, Jachten dümpeln und Stehpaddler vorbeigleiten.
Haltestelle für die Kunst
Am Ufer stoßen wir auf eine „Haltestelle“ mit den Buchstaben BOB darüber, dabei ist weit und breit keine Straße in Sicht. In zwölf Fahrplanhaltern ist moderne Kunst ausgestellt. „Anfangs gab es Vollbremsungen von Radfahrern, die dachten, hier wird eine Straße gebaut“, sagt der Initiator Bob Maier und lacht. „Damals war ich Teil der Installation: Ich saß hier mit einer Kühltasche mit Bier und versuchte, ins Gespräch zu kommen.“
Die „Magie des Wartens“ war die Grundidee des Autodidakten und Teilzeitkünstlers, der eigentlich in einer Spedition arbeitet. „Ich finde Wartesituationen auf Reisen unheimlich spannend, diese Gummizeit, in der oft interessantere Dinge passieren als an den eigentlichen Besucherhighlights“, erklärt Bob.
In den letzten fünfzehn Jahren hat er schon alle Arten von Kunst ausgestellt: Acryl, Gemälde, Collagen, Comic-Strips, Zeichnungen. „Einmal hat eine Künstlerin die Haltestelle komplett eingehäkelt, die Pfosten grau und die Schilder grün. So wurde eine neue Skulptur daraus“, sagt Bob, der die Haltestelle in einem Projekt sogar schon gemeinsam mit Flüchtlingen gestaltete.
Hommage an Künstler Christian Schad
Von kleinen Projekten bis zu großen Museen: Aschaffenburgs Kulturangebot ist für eine Stadt mit 72.000 Einwohnern besonders vielfältig. Zum Beispiel im traditionsreichen Stadttheater, im Geburtshaus des Malers Ernst Ludwig Kirchner oder im neuesten Aushängeschild: dem 2022 eröffneten Christian-Schad-Museum.
Dieser schillernde Künstler (1894 – 1982), der rund vier Jahrzehnte lang in Aschaffenburg lebte, machte sich vor allem als einer der wichtigsten Vertreter der Neuen Sachlichkeit einen Namen – mit Techniken wie der Schadografie, der Ablichtung von Objekten in Fotogrammen. In einem „Schadomaten“ dürfen wir diese Technik im Museum selbst ausprobieren.
Schad war als Porträtmaler sehr gefragt, hatte aber auch zu kämpfen: „Er schlug sich zeitweise als Yoga- und Französischlehrer durch, und Gäste saßen bei ihm am Campingtisch“, erzählt uns Museumsleiter Johannes Honeck, in dessen „Open Office“ mitten im Museum wir in flauschigen Sitzsäcken versinken.
Mit diesem neuen Format will Honeck den Dialog mit den Einheimischen ankurbeln: „Viele kennen uns überhaupt nicht. Doch ich will den Aschaffenburgern vermitteln, dass dieses Museum schließlich ihnen gehört – und dabei auch ein paar Ideen sammeln.“
Pizza auf Bayerisch
Frische Ideen sind auch in der Gastroszene mit ihren drei kulinarischen Standbeinen gefragt: Bayern ist mit Weißbier, Leberkäse und Hax’n auf den Speisekarten vertreten. Oder soll es heute fränkisch sein? Kein Problem, denn es gibt Schäufele, Nürnberger Würstchen und Wein aus dem Bocksbeutel. Hessen-Fans trinken „Äppelwoi“ aus dem Bembel und essen dazu Frankfurter grüne Soße mit Ei und Kartoffeln.
„Unsere Küche ist wirklich Crossover“, sagt Jennifer Zeller, die mit dem „Wurstbendel“ ein 130 Jahre altes Traditionslokal übernommen hat. „Früher waren das düstere Räume mit nichts als ‚Worscht‘ auf der Karte“, erzählt die Gastronomin lachend. „Ich habe etwas Mädchen-Touch reingebracht: helle Farben, witzige Gemälde und originelle Accessoires statt alter Bierflaschen in den Regalen.“
Während der Pandemie überlebte das Gasthaus dank einer Fusion, die inzwischen in vielen Biergärten der Renner ist. „Die Brizza habe ich eigentlich durch Zufall erfunden“, sagt Jennifer. „Wir hatten ein Blech mit zerlaufenem Brezelteig auf dem Ofen liegen lassen. Da habe ich spontan eine Pizza daraus gemacht – mit Obatztem und Weißwurstscheiben als Belag.“
Heute gibt es die Brezelpizza in zahlreichen Varianten: bayerisch, fränkisch, mediterran. Nur eine hessische Brizza fehlt noch. Die neue Spezialität ist ein bisschen wie Aschaffenburg selbst, meint Jennifer: „Das ist das Praktische daran, wenn man in einem Grenzgebiet lebt: Wir nehmen uns das Schönste aller Regionen und kombinieren es neu.“ Eine typische „Aschebärscher“ Mischung!