Leben auf der Alm im Rhythmus der Natur? Klingt romantisch, ist aber harte Arbeit. Sennerin Conny Reiser und Almbauer Sepp Gröbmeyer erzählen von ihrem Leben am Geigelstein und warum dieses nicht nur den Tieren, sondern auch der Natur guttut
Leben auf der Alm: Almwirtschaft hautnah
Die Haare hochgebunden, mit grünen Gummistiefeln an den Füßen und einem langen Unkrautstecher in der Hand steht Cornelia „Conny“ Reiser auf der Wiese hinter ihrer Almhütte. Fest packt sie mit den gelben Handschuhen zu, um das Alpen-Kreuzkraut aus dem von Kuhtritten durchlöcherten Boden zu ziehen.
Eigentlich sieht das Kraut mit den herzförmigen Blättern recht harmlos aus. Doch die Pflanze enthält hochgiftige Pyrrolizidin-Alkaloide. „Normalerweise spuckan’s de Viecha wieda aus, weil’s bitter is. Aber des vermehrt sie so schnei, dass dea ganze Woad zuawachst, wenn ma nix duad“, sagt Conny.
Schon geringe Konzentrationen im Heufutter können bei Kühen und Pferden chronische Leberschäden verursachen. Deshalb gehört das Unkrautstechen zu Connys Aufgaben auf der Haidenholzalm. Die liegt im Naturschutzgebiet Geigelstein in den Chiemgauer Alpen. Auch das Sensen von Alpenampfer und Brennnesseln, die Kontrolle der Zäune und der Tiere auf den Weideflächen zählen zu den täglichen To-dos der Almerin.
Soundtrack: Kuhglocken
Die Haidenholzalm, eine der ältesten Alpen im Chiemgau, wurde 1569 erstmals urkundlich erwähnt und wird bis heute „bestoßen“, also zwischen Juni und September von Jungvieh beweidet.
Das helle Gebimmel der Kuhglocken und das dumpfe Rauschen des Alpbachs gehören zum ständigen Soundtrack der Alm auf 1.340 Meter Höhe. Von der Terrasse des Linnerkaser, einer über 200 Jahre alten Steinhütte, schweift der Blick über die Gipfel der Chiemgauer Alpen vom Hochgern bis zum Sonntagshorn.
Conny lebt schon seit Ende Mai mit dreißig Rindern, fünf Hühnern und einem Hahn auf der Alm. Sie ist seit 6 Uhr morgens auf den Beinen. Heute früh hat sie schon einen zehn Kilo schweren Salzleckstein auf die Weide geschleppt. „I arbeit’ vormittags so lang, wia i ko, und dann geh i erst zruck auf d’Hütt’n zum Fruahstück. Wenn’s schee Wetter is, kemman dann hoffentlich a paar Leit“, sagt sie.
Leben auf 13 Quadratmetern
Der Linnerkaser ist keine kommerzielle Almwirtschaft aber Wanderern serviert Conny ein kühles Getränk oder Kaffee und Kuchen. So manchen gestressten Städter hat sie schon erfolgreich entschleunigt. „Des gfoid ma, wenn i de Leid a bissl des Gas aussenemma ko. De sitz’n dann do auf da Hausbank, schaugn in d’Gegend und san z’frieden“, erzählt sie.
Die gelernte Bankkauffrau und Hauswirtschafterin aus Rosenheim lebt seit zehn Jahren jeden Sommer in der 13 Quadratmeter kleinen Hütte mit Küche, Schlafkammer und Bad. Zuvor war sie drei Sommer lang auf der höher gelegenen Rossalm „in der Lehre“. Dort hat sie auch das Käsen zum ersten Mal ausprobiert. Wenn jemand Frischmilch aus dem Tal für sie heraufbringt, steht sie in der Küche und setzt Käse an. „Irgendwie g’hert des für mi zamm: Oim und Kas“, sagt Conny.
Leben am Berg ist harte Arbeit
Die Dachbalken über dem alten Holzofen sind rußgeschwärzt, von der Decke hängen Kräuter zum Trocknen. In einem großen Topf rührt Conny die Rohmilch, die für eine Stunde eine konstante Temperatur von 32 Grad halten soll. Dann fügt sie Lab hinzu und wartet noch mal eine Stunde, bis sich der Käsebruch bildet. Auf dem Tisch stehen schon zwei Laib Schnittkäse und ein Camembert, der noch reifen muss. Ihren Schnittkäse legt sie mit Kräutern in Öl und Knoblauch ein – wer Glück hat, ergattert ein Glas von „Cornelias Frischkaas“ oder ein Glas „Blaubeermamalad“.
Am späten Nachmittag läuft die Almerin die Berghänge ab, um sicherzustellen, dass keine Kuh ausgebüxt ist. Harte Arbeit von Sonnenaufgang bis -untergang, aber Conny liebt das Leben am Berg und weiß um die Bedeutung der Almwirtschaft für die Natur.
Almwirtschaft am Blumenberg
Früher brauchten die Bauern die Wiesen im Tal zur Heugewinnung, also um Futtervorräte für den Winter anzulegen. Deshalb brachten sie den Großteil ihres Viehs im Sommer auf die höher gelegenen Almen. Mit der zunehmenden Kommerzialisierung der Milchwirtschaft stellten viele Bauern später auf Anbindehaltung im Stall um.
Seit den 1990ern rückt das Tierwohl wieder in den Fokus. Der Trend geht zurück zu Weide- und Laufstallhaltung. Trotzdem bringen heute nur noch wenige Bauern ihr Jungvieh im Frühjahr auf die Alm, obwohl die Tiere nach der Zeit in den Bergen robuster, leistungsfähiger und langlebiger sind. Mastrinder, die als Kälber auf der Alm waren, haben zudem eine bessere Fleischqualität, da sie deutlich mehr Muskeln aufbauen.
Beweidung schützt die Artenvielfalt
Mittlerweile sind sich auch Naturschützer einig, dass die Artenvielfalt am Geigelstein nur durch die Beweidung weiter bestehen kann. Die Almwirtschaft verhindert, dass die freien Almflächen und Bergwiesen verbuschen. So bewahrt die Wirtschaftsform den Lebensraum für lichtbedürftige Pflanzen.
Rund 720 Farn- und Blumenarten wachsen an den Hängen des „Chiemgauer Blumenbergs“. Seit 1991 steht das Gebiet zwischen Prien- und Achental deshalb unter Naturschutz. Nicht zuletzt sind die idyllischen Almen auch ein wichtiger Faktor für den Tourismus.
„Weil koana hod a Freid, wenn er nur im Woid laaft und nix sicht“, bringt es Conny auf den Punkt. „De Wiesn mit de Blemal san so schee zum Oschaun.“ Wer von der Haidenholzalm den kleinen Pfad weiter aufsteigt, kann das bestätigen. Auf den Wiesen blühen Enzian, Frauenschuh, Türkenbund und Orchideen. Neben dem Weg spitzen Murmeltiere aus den Löchern ihrer Bauten.
Rinder auf der Rossalm
Nach etwa einer Stunde Marsch ist das Hochplateau der Rossalm, einer großen Weidefläche zwischen 1.550 und 1.780 Meter Höhe, erreicht. Früher war die Rossalm – nomen est omen – eine Pferdeweide. In diesem Sommer mischen sich nur drei gescheckte Ponys unter die 43 Rinder, die zufrieden fressend über die sumpfigen Wiesen trotten.
Almbauer Sepp Gröbmeyer werkelt an der Wasserleitung im kürzlich erneuerten Stallgebäude. Das Wasser wird mit einem „Widder“, einer selbst treibenden Wasserpumpe, von der Sachranger Bergseite bis zur Alm gepumpt. Im Gegensatz zur Haidenholzalm führt kein Wirtschaftsweg zur Rossalm hinauf.
Während die Rinder woanders mit dem Schlepper raufgefahren werden, treibt Sepp mit den anderen Bauern das Vieh vom Ende des Fahrwegs nahe der „Priener Hütte“ bis zur Rossalm.
Keine Straße, kein Karrenweg
Das Leben auf einer der höchstgelegenen Almen Bayerns ist noch mühsamer als in tieferen Lagen. Seit über 40 Jahren bewirtschaftet der 69-Jährige, der hauptberuflich einen Biobauernhof bei Bad Aibling betreibt, mit seiner Familie die Rossalm. „Was mia im Frühjahr ned mit’m Heli auffifliagn, miassn mia selba auffibringa. Es is zwar romantisch, wenn ma koa Auto ned sicht, aber aa schwierig“, erzählt Sepp später in der gemütlichen Stube, während seine Lebensgefährtin Maria einen Topfenstrudel in den Holzofen schiebt.
Wegen der strengen Naturschutzauflagen sei selbst ein Karrenweg abgelehnt worden. „Wir miassn jedes moi an Rucksack mit 25 Kilo raufschleppa, wenn ma was brauchan fürs Vieh oder de Senner“, sagt er. Gegen Kritik, er wolle dort oben nur mehr Geschäft machen, wehrt er sich: „De Bewirtung vo de Leid, de auffi kemma, is bloß a kloans Zubrot.“
Die meiste Zeit ist Sepp mit anderen Arbeiten beschäftigt: Latschen „schwenden“, um die Verbuschung der Almflächen zu verringern und Brennholz zu gewinnen, Heu machen, die Kälber und die beiden Milchkühe versorgen und deren Milch verarbeiten, zweimal täglich nach dem Vieh auf der Weide sehen. Wie auf der Haidenholzalm gibt es auch auf der Rossalm nicht viel mehr als eine Stube, eine Schlafkammer und einen Stall mit Heuboden.
Die Mühsal der Vorfahren
Die ersten zwei Wochen nach dem Viehauftrieb verbringen Sepp und Maria auf der Alm, danach wird sie abwechselnd von Familienmitgliedern und anderen Sennern bewirtschaftet. Bei einem ofenwarmen Stück Topfenstrudel erzählt Sepp die Hüttengeschichte anhand einer Mappe mit Schwarz-Weiß-Fotos: Vor 75 Jahren gab es auf der Alm nur eine Art Notunterkunft aus Bruchsteinen und Brettern. Sepps Schwiegervater übernahm dann 1950 die Alm.
Um eine neue Hütte zu bauen, brachten Maultiere einen Dieselmotor auf den Berg, die Familie zog Baumstämme mit einer Seilwinde hinauf, errichtete ein Sägewerk, grub Steine aus und baute sogar einen Kalkofen, um Mörtel für die Steinmauern herzustellen. 1954 war die Hütte fertig, doch rund 15 Jahre später musste die Familie die mühsame Arbeit wieder aufgeben.
Ein Schweizer rettete die Alm, bevor in den 1980ern Sepp mit wechselnden Sennern einsprang und die Wiederbewirtschaftung begann.
Gewinn für Mensch, Tier und Natur
Warum tut er sich diese Knochenarbeit noch an? „Durch d’Almwirtschaft hamma a unheimlichs Pfundsvieh, des ganz natürlich aufwachst. Es macht einfach a Freid, wenn ma de glücklichen Viecher sigt. Und wenn i in da Friah rausgeh und nach de Viecher schau, des is a Rua, do moanst, es is Frieden auf da Welt“, sagt Sepp.
Im Almgebiet hat in diesem Sommer wieder ein Steinadlerpaar gebrütet, und auch für Raufußhühner stellen die Almen einen wichtigen Lebensraum dar. Naturschützer fordern sogar, die Rossalm noch stärker zu beweiden, um diesen einzigartigen Lebensraum für Enzian- und Orchideenarten, Bergmolche und Gelbbauchunken zu erhalten. Denn alle sind sich einig: Die Almwirtschaft ist ein Gewinn für Mensch, Tier und die Natur.