Wo ist er, der König der Berge? Mit Rangerin Britta und Vogelschützerin Tanja auf den Spuren des Steinadlers durch die Allgäuer Hochalpen
Adler-Safari im Hintersteiner Tal
Und dann zeigt er sich doch noch. Zieht elegant seine Kreise, hoch droben und ganz allein, einige Hundert Meter über der weiten Lichtung. Eineinhalb Stunden waren wir unterwegs an diesem wilden Wintertag mit seinen wabernden Wolkenfetzen. Die spielten mit den Gipfeln der Hochalpen, umschlangen sie und gewährten nur manchmal gnädig freie Sicht auf die imposanten Felszacken. Auf Giebel, Roßkopf und auf den Großen Daumen.
Wieder und wieder hatten wir auf unserer Wanderung den grauen Himmel gescannt, immer vergeblich. Mit einem Mal aber gleitet er aus den Nebelschwaden heraus, kurz vor unserem Etappenziel, der „Schwarzenberghütte“. Ein perfektes Timing für unsere Wintertour auf den Spuren des Steinadlers. Wie gerufen. Wie bestellt.
Alpinium für umweltverträglichen Tourismus
Drei Stunden zuvor weit unten im Tal. Am Ortsende von Hinterstein treffen wir Britta Löw. Britta ist Rangerin beim Alpinium, einer vom Freistaat geschaffenen Beratungs- und Fachstelle, die sich mit einem Kompetenzteam um Naturschutz und umweltverträglichen Tourismus kümmert.
Am Wanderparkplatz „Auf der Höh“ steht das Rangermobil, eine fahrbare, knapp acht Meter lange Holzhütte, die unterschiedliche Standorte im Allgäu ansteuert, um Touristen, Ausfügler und Wanderer über Landschaft und Natur zu informieren, über Fauna und Flora, über Schutz- und Schongebiete. Kurz: Wo in der Region man als Mensch unterwegs sein darf. Und wo eben auch nicht.
Mit auf unserer Tour ist Tanja König vom Landesbund für Vogel- und Naturschutz (LBV). Sie ist als Gebietsbetreuerin der Allgäuer Hochalpen die Expertin für Adler und alles, was da oben liegt und schwebt. Britta und Tanja sind die perfekte Begleitung, um mehr zu erfahren über die Besonderheiten der alpinen Ökologie, über Fauna, Flora und ganz speziell natürlich über den Steinadler.
Hintersteiner Tal: Eines der schönsten Täler Bayerns
Mit dem Bus geht es 20 Minuten durch das für den Autoverkehr glücklicherweise gesperrte Hintersteiner Tal, eines der schönsten Täler der bayerischen Alpen. Dort, wo sich seit Urzeiten die Ostrach ihren Weg durch das Gestein gräbt und durch eine inzwischen 85 Meter tiefe Schlucht rauscht. Eisenbreche wird die Klamm auch genannt, wegen der hier einst entdeckten Erzvorkommen.
Am Giebelhaus ist Endstation, die Skitourengeher aus dem Bus brechen Richtung Süden ins Bärgündeletal auf. Wir machen uns auf nach Osten zur „Schwarzenberghütte“ und entdecken am Wegesrand schon bald die ersten Tierspuren. Sonderbar anmutende dreieckige Muster, die Britta und Tanja schnell als Abdruck des Schneehasen identifizieren. Weil er beim Fortbewegen mit den breiten Hinterfüßen immer an den schmalen Vorderpfoten vorbeispringt.
Vom geschnürten Trab des Fuchses erzählen die beiden und vom Marder, der mit den Hinterbeinen immer in die Spuren der Vorderfüße reinhüpft, als wir plötzlich auf ein Schild neben unserer Strecke stoßen. Es ist eine der Hinweistafeln, die Britta und ihr Team hier in der Gegend an vielen Bäumen angebracht haben – mit einem STOPP! in Großbuchstaben, mit dem Slogan „Dein Freiraum – mein Lebensraum“. Mit einer Landkarte, in der große rote Flächen in diesem Fall die Wald-Wild-Schongebiete der Gams markieren, die man gerade im Winter auf keinen Fall betreten sollte.
Rücksicht und Respekt vor der Natur
Von „Besucherlenkung“ spricht Britta, es ist ein Begriff, der an diesem Tag noch oft fallen wird. Es geht um die Zeit in der Pandemie und die vielen Urlauber, die das Allgäu wie letztendlich ganz Südbayern vor große Herausforderungen stellten. Als mehr kamen, als zu vertragen war und zu ertragen. Als zwar die meisten Touristen Rücksicht nahmen und Respekt zeigten gegenüber der Natur, viele aber auch querfeldein trampelten, auf der Suche nach einer Abkürzung oder auch nach einem sinnfreien Selfie-Spot.
„Das Gebiet der Allgäuer Hochalpen ist die artenreichste Gebirgs-Region der Republik“
Umso wichtiger ist es, den Menschen zu vermitteln, dass sie zu Gast sind in der Natur. Dass es nicht ihr Revier ist. Sondern dass der heimischen Tiere. Auch und gerade im Naturschutzgebiet Allgäuer Hochalpen, mit einer Fläche von 20.000 Hektar die artenreichste Gebirgsregion der Republik.
Auf unserem Weg weiter nach oben durch die verschneite Winterwelt erzählt Britta von den zahlreichen Naturführungen, die sie anbieten, auch um Menschen von achtlosen Alleingängen abzuhalten.
Am Riedbergpass, dem höchsten befahrbaren Gebirgspass Deutschlands zwischen Balderschwang und Obermaiselstein, eröffneten sie im Herbst 2022 eine Gamsbeobachtungsstation. Von dort aus können Besucher mithilfe von hochauflösenden Fernrohren die Wildtiere an den gegenüberliegenden Berghängen gut beobachten.
Die Allgäu Big Five
Im Sommer sind die Naturführer oft unterwegs auf der Fährte der Allgäu Big Five. Das Wildtier-Quintett besteht aus Gams, Steinbock, Alpenschneehuhn, Murmeltier – und dem Steinadler, der Majestät der Allgäuer Hochalpen.
„Zehn Adler-Brutpaare leben derzeit zwischen den Allgäuer Hochalpen und dem Naturpark Nagelfluhkette weiter nordwestlich“, berichtet Tanja. Eines der letzten Refugien für den Greifvogel, der in den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten durch den Menschen immer mehr aus seinen natürlichen Lebensräumen verdrängt wurde.
In den unzugänglichen Steinwüsten hoch droben hat der Adler noch seine Ruhe, dort können die Vögel in ihrem jeweils rund 40 Quadratkilometer großen Revier Murmeltiere oder Reh- und Hirschkitze jagen. Hier können sie in ihrem Horst nisten, ihre Küken großziehen, bis sie nach fünf Monaten bereit für den Abschied sind und hinausfliegen in die weite Welt der Alpen, um sich irgendwo niederzulassen und selbst eine Familie zu gründen.
Auf den Spuren des Steinadlers
Als Gebietsbetreuerin ist Tanja oft unten an der Adlerhütte des LBV. Manchmal erzählt sie dort Grundschulkindern auf Klassenausflügen vom Leben eines Adlers und lässt sie mit Ferngläsern und Teleskopen Ausschau halten. Auf der Suche nach dem nächsten Horst. Gerade im Frühsommer seien die Chancen groß, Adlereltern mit ihren im Frühling frisch geschlüpften Küken in ihrem Nest zu beobachten.
Anders als für uns an diesem eiskalten Tag im Februar. Wir würden uns schon freuen, überhaupt einen Steinadler zu erspähen. Als wir die Hoffnung schon fast aufgegeben haben, als wir uns gerade unterhalten über Raufußkauze und Wanderfalken, über den Fichtenkreuzschnabel als solchen und andere Vogelarten im alpinen Allgäu, taucht er dann doch noch auf. Über dieser Lichtung, die mit ihren weit verästelt kahlen Ahornbäumen vor umwolkter Bergkulisse einem Gemälde von Caspar David Friedrich entstammen könnte.
Von einer Flügelspannweite bis zu 2,30 Meter spricht Tanja, von seinen Schwingen, die einem Snowboard ähneln. Und dass er vermutlich Hunger hat, so wie er seine Runden drehe, meint sie noch. Dann sind wir still und schweigen und genießen den Anblick. Mit Freude und mit Ehrfurcht, bis seine Hoheit nach einigen Minuten wieder hinter der dichten Wolkenwand verschwindet.
Flädlesuppe, Käseplatte und Kaiserschmarrn
Wir beschließen unsere Wanderung bei einer Einkehr auf der „Schwarzenberghütte“. Diana Socher hat an Weihnachten 2022 mit nur 26 Jahren hier als Wirtin angefangen. Als Nachfolgerin von Albert Hanschek, der als personifizierte Institution 37 Jahre lang hier oben wirkte und schon Gäste bewirtete, als Diana noch gar nicht auf der Welt war.
Hier Pächterin zu sein, sagt Diana, sei ein lang gehegter Traum. Warum? Weil in den 1950er-Jahren schon die Großeltern die damals frisch erbaute Hütte betrieben. Sie ist Stützpunkt für Wanderer, die zum malerischen Engeratsgundsee wollen. Oder zum Großen und Kleinen Daumen oder zum Nebelhorn. Für uns aber ist die Hütte auf 1.380 Meter Meereshöhe an diesem Tag der Wendepunkt.
Nach Stärkung bei Flädlesuppe, Käseplatte und Kaiserschmarrn geht es auf Schlitten, die man sich an der Hütte leiht und am Ende der fünf Kilometer langen Piste am Giebelhaus zurückstellt, bergab.
Dass die Rodelpartie nicht nur lustig, sondern mit der Ankunft um kurz nach vier auch zweckmäßig war, beweist der Busfahrplan: Im Winter fährt der letzte Bus zurück nach Hinterstein um 16.10 Uhr. Wer zu spät kommt, geht zehn Kilometer durchs Tal zu Fuß.
Bei der Fahrt zum Wanderparkplatz ein letzter Blick zurück aus dem Bus. Ob der Adler doch noch aus den Wolken huscht, sich uns noch einmal zeigt? Tut er nicht. Er bleibt verborgen. Und Recht hat er. Er soll einfach unbeirrt seine Bahnen ziehen, wann und wie er mag. Soll einfach seine Ruhe haben da oben.