Wir trafen die dreimalige Olympiasiegerin im Eisschnelllauf zu einer entschleunigten Winterwanderung um den eisigen Frillensee. Text: Florian Kinast, Fotos: Thomas Linkel
Anni, die Eisschnelllauf-Legende
Ein später Wintervormittag am Frillensee. Die fahle Sonne, die sich gerade erst aus der Westflanke des Hochstaufen herausgeschält hatte, verschwindet schon wieder hinter der gewaltigen Felswand des Zwiesel. Kraftlos, matt und resigniert. In diesen Tagen fehlt es ihr noch an Höhe, erst in zwei, vielleicht drei Wochen kratzt sie mittags die Gipfel des Bergmassivs und schickt einen Hauch von Vorfrühling herab. Bis dahin bleibt es hier schattig, zapfig, eisig kalt.
Dick eingepackt in einen Daunenmantel nimmt Anni Friesinger die letzten schwachen Vormittagsstrahlen mit, am Nordufer des Sees auf einem Bankerl. Auf ihrem Bankerl. Anni Friesinger blickt über den vereisten See zu den Gipfeln und erzählt.
Dies sei einer der ganz besonderen Plätze in ihrem Leben, ein Ort von großer Bedeutung seit ihrer Kindheit. „Ein Ort“, sagt sie, „an dem ich immer zu mir gekommen bin. Ein Ort voll großartiger Natur, an dem ich Demut und Dankbarkeit spüre.“ An dem sie auch während ihrer großen Karriere als Spitzensportlerin immer Ruhe fand und zu sich selbst.
Frillensee: Traum für Kufenflitzer
Der Frillensee, rund fünf Kilometer östlich des Dorfzentrums von Inzell, ist nicht nur für Anni Friesinger ein spezieller Platz, sondern auch für die Entwicklung des Eisschnelllaufs in Deutschland. 1959 sah sich der Deutsche Eissportverband nach geeigneten Bedingungen für ein bundesweites Trainingszentrum um.
Halensee in Berlin? Riessersee in Garmisch? Thunsee bei Bad Reichenhall? Taugten alle nichts. Dann entdeckten sie den Frillensee, wegen seiner Lage auf knapp 1.000 Meter Höhe und der wenigen Sonnenstunden im Winterhalbjahr einer der kältesten Seen in ganz Mitteleuropa. Auch die Maße passten: 340 Meter lang, 130 breit, die Eisdecke 20 Zentimeter und mehr dick – beste Bedingungen für die Kufenflitzer.
Auf dem Baumwald-Erlebnispfad
Als Kind habe sie immer wieder die alten Geschichten gehört, erzählt Anni Friesinger auf dem sanft ansteigenden Weg entlang des Frillensee-Bachs. Links und rechts tauchen immer wieder Schautafeln auf, an den einzelnen Stationen des Baumwald-Erlebnispfads, den sie liebevoll für Sommerausflügler mit Kindern angelegt haben, mit Barfußbeet und Weitsprunggrube, mit Rastplätzen am Bach. Heute ist alles versteckt unter einer dichten Decke aus Schnee.
"Tausende Menschen pilgerten zu Fuß hierher"
Schon im Januar 1960 stiegen am Frillensee die Deutschen Meisterschaften, erzählt Anni Friesinger auf einer schmalen Brücke über den Bach, und dass es damals nicht so einsam gewesen sei wie jetzt. Tausende Menschen pilgerten zu Fuß hierher, viele marschierten aus Inzell an, um dabei zu sein, wie sich der Münchner Josef Biebl als Titelträger im Mehrkampf für die Olympischen Spiele in Squaw Valley qualifizierte.
Als der See zum Mythos wurde
Die perfekten Bedingungen im ewigen Winterschatten des Zwiesel sprachen sich herum, mit den Jahren kamen auch die Stars aus Österreich und der Schweiz zum Trainieren, aus Holland und Finnland.
Auch wenn sie 1963 unten im Dorf ein Stadion bauten – der See blieb im Namen des Eislaufklubs DEC Inzell-Frillensee verankert. Er wurde zum Mythos und zum Ort, an dem die kleine Anni Friesinger ihre ersten Runden drehte, wie sie erzählt, als durch die Baumreihen allmählich das Seeufer ins Blickfeld rückt.
Von den ersten Schritten ...
1977 kam sie zur Welt, als Anna Christine Friesinger, drüben hinter dem Hochstaufen in Bad Reichenhall. Dass sie bald auf Schlittschuhen stehen sollte, verstand sich von selbst, bei diesen Eltern: Mutter Janina, 1976 unter ihrem Mädchennamen Korowicka für Polen Olympia-Teilnehmerin bei den Spielen von Innsbruck, Vater Georg ein erfolgreicher Läufer. Fünfter war er mal bei einer Deutschen Meisterschaft. Kennengelernt hatten sich die beiden 1973 bei einem Wettkampf im Berlin.
Als Schülerin bestritt Anni Friesinger ihre ersten Wettkämpfe. „Unter der Woche habe ich nach der Schule meistens im Stadion trainiert“, sagt sie, warm eingepackt jetzt auf ihrem Bankerl, „aber gerade am Wochenende waren wir oft hier am See.“ Aus der ganzen Gegend kamen die Leute zum Schlittschuhlaufen, zum Eisstockschießen und Eishockeyspielen.
... zu Olympia-Gold
Mit neun feierte Anni die erste von vielen Deutschen Meisterschaften, Jahr für Jahr kamen weitere dazu, mit 18 war sie Junioren-Weltmeisterin. In Nagano 1998 mit Bronze über 3000 Meter die erste Olympia-Medaille, im gleichen Jahr der erste von 16 WM-Titeln, 2002 in Salt Lake City Olympia-Gold über die 1500 Meter.
Die Winterspiele von Turin 2006 sollten der große Höhepunkt werden und endeten für die Favoritin auf Mehrfach-Gold enttäuschend. Mehr als einmal Bronze über 1000 Meter war nicht drin. Und der Olympiasieg in der Teamverfolgung – ein schwacher Trost.
2010, nach dem erneuten Mannschaftsgold in Vancouver, beendete Anni ihre Karriere. So sehr sie den Rummel und die Aufmerksamkeit lange genossen hatte, so sehr sehnte sie sich immer wieder nach Ruhe, nach dem Alleinsein mit sich und der Natur.
Kraftort zum Energietanken
In jener Zeit kam sie immer wieder an den Frillensee. „Gerade in Phasen, in denen es mir nicht so gut ging“, sagt sie, „bin ich hier zu mir gekommen und hab’ mich wieder gefunden. Der Frillensee ist für mich bis heute ein Kraftort zum Energietanken.“ Ein Ort, an dem sie auch viel an ihren Vater dachte. Georg Friesinger, der schon mit 43 starb, an einem Hirnschlag. Als Anni 19 war.
„Manchmal“, sagt sie, „kommt mir das immer noch surreal vor, wie in einem schlechten Schauspiel. Aber dafür habe ich hier auch sehr schöne Erinnerungen an unsere vielen Stunden und Tage.“ Etwa an die Sommer, als sie Oma und Opa besuchten, die ein paar Kilometer weiter östlich vom Frillensee in Anger einen Bauernhof hatten.
Erinnerungen daran, wie sie miteinander Holz machten, dass sie spazieren gingen zu dem Kreuz, das der Großvater am Weg aufgestellt hatte, an Wanderungen auf den Zwiesel und den Hochstaufen.
Nach einer knappen Stunde wird es frisch – Zeit zum Aufbruch. Über einen Holzsteg führt der Rundweg ein Stück am Ufer entlang, dann sachte bergab in Richtung Adlgaß. Auf dem letzten Teilstück stellt sich Gegenverkehr ein, Kinder ziehen ihre Holzschlitten hinter sich zum Start der Rodelstrecke. An Wochenenden geht’s hier im Winter mächtig zu, die Schlittenbahn ist ein beliebtes Ausflugsziel.
Anni sitzt in der Wärme, im Herrgottswinkel des Forsthauses „Adlgaß“. Oft ist sie mit ihren Töchtern hier, mit der 2011 geborenen Josephine und der drei Jahre jüngeren Elisabeth. Sie kommen zum Spazierengehen, zum Eislaufen auf dem See und zum Rodeln… Und auf einen Ratsch mit Christl, ihrer alten Schulfreundin und Pächterin der Gaststätte.
Ein schöner Traum...
Vor vielen Jahren erzählte mir Anni einmal von einem Traum. Dass sie Besuch bekäme von ihrem Vater und von Jim Morrison, dem Sänger ihrer Lieblingsband, den „Doors“. Die Schwester, der Bruder, die Mama sind da, auch die längst verstorbenen Großeltern, auf dem Esstisch stehen Kerzen und weiße Tulpen, aus der Stereoanlage sind die Doors zu hören und die Oma macht ihr berühmtes Erdbeer-Mus.
Ein schöner Traum, der so weitergehen könnte: Nach dem Essen gehen sie eine Runde spazieren und rücken dann eng zusammen, die Mama und die Geschwister, die Oma, der Opa und der Jim. Die Anni und ihr Papa. Auf ihrem Bankerl am Frillensee.