Yoga, Meditation, Atemübungen – und am Ende ein Eisbad auf 2.600 Meter Höhe. Ein intensiver Tag auf der Zugspitze, an dem man die Kälte spürt und vor allem sich selbst. Nach dem Motto: Einmal nach ganz oben zum Herunterfahren
Yoga, Meditation, Atemübungen und Eisbaden auf der Zugspitze
Über das Zugspitzplatt pfeift eisig der Wind. Skifahrer schwingen unterhalb des Gletscherrestaurants die rote Piste hinunter zum Sessellift in Richtung Wetterwandeck. Kinder ziehen ihren Schlitten hinüber zur Familienrodelbahn unter dem Schneefernerkopf. Tagesausflügler stapfen durch den Schnee von der Gondelstation zum Igludorf, einem gewaltigen, künstlich angelegten Eispalast samt Restaurant und Schneebar.
Alle sind dick eingemummt, tragen Mützen, Handschuhe und warme Daunenmäntel. Viele bleiben stehen und starren mich entgeistert an. Manche wirken amüsiert, einige blicken voll Mitleid. Die meisten aber scheinen zu rätseln, ob ich noch voll zurechnungsfähig bin. Tickt der noch richtig?
Ich stehe da in einer Badehose. Freiwillig. Draußen am Gletscher. Mitten im Winter, auf 2.600 Meereshöhe. Denn gleich steige ich in die Wassertonne für ein Eisbad. Auf Deutschlands höchstem Berg ist dies der Gipfel einer Grenzerfahrung und der Abschluss eines Tages mit Yoga, Meditation und Atemübungen.
Ein intensives Programm für Körper, Geist und Seele, das Überwindung kostet und bei dem es nicht allein darum geht, kaltes Wasser zu spüren. Sondern vor allem sich selbst.
Yogamatte statt Ski
Los geht’s in der Früh, kurz nach 8 Uhr an der Talstation der Zugspitzbahn. Moritz Ross ist im Gewusel rund um die Liftkasse leicht zu erkennen. Er hat nicht wie die meisten anderen Ski oder Snowboard mit dabei. Er ist der Mann mit Decken und Yogamatten und der Guide, der die Gruppe von zwölf Teilnehmern in den kommenden Stunden durch den fordernden Workshop führen wird.
Auf der Gondelfahrt nach oben erzählt Moritz, wie das alles kam. Wie er in seiner Heimatstadt Berlin eine Schauspiel-Ausbildung absolvierte, auf Theaterbühnen und vor der Kamera stand, bis ihn eine tiefe Lebenskrise erfasste. Er zog weit weg nach Garmisch-Partenkirchen, jenen Ort, an dem er 20 Jahre zuvor schon seinen Zivildienst geleistet hatte, Kinder, Behinderte und alte Menschen betreute – und an dem er nun auch in der Liebe sein Glück fand.
Das Loch im Eis als Wendepunkt
Eines Tages im Winter spazierte Moritz mit seiner Partnerin um den zugefrorenen Geroldsee bei Krün. Plötzlich schnappte er sich einen herumliegenden Holzklotz, schlug damit ein Loch ins Eis, zog sich komplett aus und sprang ins Wasser. Einfach so. „Ein Wendepunkt in meinem Leben“, sagt er heute.
„Die Kombination aus Atemtraining, Meditation und Eisbaden stärkt das Immunsystem“
Moritz erinnerte sich an eine alte Freundin seiner Mutter, die am Starnberger See aufwuchs und jeden Tag zum Baden ging, sommers wie winters, die nie krank war und 96 Jahre alt wurde. Und an Wim Hof, den niederländischen Extremsportler, der schon einen Marathon am Polarkreis bei minus 20 Grad in Shorts und Sandalen lief oder knapp zwei Stunden bis zum Hals in Eiswasser stand. Wer’s mag ... Zumindest nichts, was auf die Schnelle zum Nachahmen zu empfehlen wäre.
Hof machte die nach ihm benannte, auf drei Säulen basierende Methode populär: die Verbindung aus Atemtechnik, Meditation und Eisbaden – um das Immunsystem zu stärken, das Energie-Level zu steigern, auch um den Schlaf zu verbessern. Hof löste einen regelrechten
Hype aus, andere sahen ihn etwas skeptisch. Hof habe lediglich die jahrhundertealte sogenannte Tummo-Technik („inneres Feuer“) aus dem tibetischen Buddhismus variiert und sich mit geschicktem Marketing zum Gesundheits-Guru gemausert.
Die erste Prüfung: Nichts tun
Moritz begann, sich intensiv mit den Inhalten und der Philosophie von Hof zu beschäftigen, und absolvierte eine Ausbildung zum zertifizierten Wim-Hof-Instructor – um nun an verschiedenen Orten Kurse und Workshops anzubieten, immer unter dem Motto: Embrace Your Breath. Umarme deinen Atem.
Er tut das in Murnau, am Eibsee und manchmal in seiner Heimat Berlin. Oder eben wie an diesem Tag auf der Zugspitze, wo das Programm in einem verglasten Nebenraum des Gipfel Restaurants beginnt. Und zwar mit einer ersten harten Prüfung, die uns Moritz vorgibt: Nichts tun! Nichts denken!
Rund eine Viertelstunde lang sitzen wir da, blicken durch das Panoramafenster auf die verschneite Bergwelt, die bis zum Horizont reicht. Die ersten Minuten suche ich noch nach der richtigen Balance, noch immer leicht unruhig von den Stunden zuvor. Das frühe Aufstehen, die Anfahrt, der Baustellen-Stau in der Ortsmitte von Garmisch. Schaffen wir’s rechtzeitig? Habe ich alles dabei? Und habe ich das Auto unten am Parkplatz eigentlich abgesperrt? Von wegen nichts denken …
Und dann ist da ja noch das starke Bedürfnis, bei diesem gewaltigen Ausblick das Handy mit der Peakfinder-App auszupacken und die umliegenden Gipfel zu identifizieren. Ist das da vorne die Karwendelspitze? Und weit hinten der Großglockner? Sieht man den überhaupt? Oder der Ortler? Und in welche Richtung schauen wir eigentlich?
Yoga-Basics: Sonnengruß und Lotussitz
Langsam, ganz sachte stellt sich eine friedliche Mitte ein – und schaltet sich ein Unruheherd nach dem anderen ab. Einfach rausschauen. Einfach genießen. Einfach sein. Es ist eigentlich ziemlich leicht. Wenn man nur will und sich darauf einlässt.
So ist es auch beim anschließenden Yoga. Bei Übungen wie dem Sonnengruß, dem Krieger, dem Lotussitz. Bei den klassischen Basics, in die an diesem Vormittag auch jeder leicht reinfindet, dem Yoga bis dahin völlig fremd war. Die Anleitungen kommen von Ameli, der Lebensgefährtin von Moritz. Ameli Neureuther stammt aus der berühmten Skifahrer-Dynastie. Ihre Eltern Rosi und Christian und ihr Bruder Felix gehörten zu ihrer Zeit zu den weltbesten Rennläufern.
Auch Ameli galt im Juniorenkader des Skiverbands als eines der größten Talente, mit 16 aber beendete sie ihre Laufbahn. Sie wollte ihren eigenen Weg gehen und nicht nur am Namen und den Erfolgen der Eltern gemessen werden.
Ameli wurde zunächst Modedesignerin und später Yoga-Lehrerin. Schon immer war sie aber auch fasziniert von der Kunst. Seit sie als Erstklässlerin von ihrer Mutter den Blauen Reiter von Franz Marc gezeigt bekam. Sich und ihre Gefühle künstlerisch auszudrücken und wieder mehr zu malen, das war ein Versprechen, das sie ihrer 2023 verstorbenen Mama kurz vor deren Tod gab.
Ergreifend war diese Szene in der BR-Sendung „Lebenslinien“, in der Ameli mit einem Gemälde für Rosi ihren Vater zu Tränen rührte und davon sprach, dass die Kraft der Mama jetzt im Universum weiterlebe.
Partnerübung: Mal einfach nur zuhören
Es wird sich auch an diesem Vormittag noch viel um Gefühle drehen. Und um die essenziellen Dinge im Leben. So wie bei der Partnerübung, bei der wir uns gegenübersitzen und einander nur in die Augen sehen sollen. Moritz meint, wir sollten uns etwas erzählen, was uns zutiefst bewegt, oder von einem Traum, den wir uns erfüllen wollen.
Dabei mögen wir uns ganz darauf fokussieren, dem Gegenüber aufmerksam zuhören, ohne den Blickkontakt zu verlieren. So etwas über fünf Minuten aufrechtzuhalten, das sei ein Kinderspiel, könnte man meinen. Aber in Zeiten immer kürzerer Aufmerksamkeitsspannen und vielfacher digitaler Ablenkungsoptionen scheint der Mensch in seiner Fähigkeit, sich bewusst auf andere einzulassen, mittlerweile eher degeneriert.
Das Gefühl für die Zeit verschwimmt an diesem Vormittag, gerät allmählich in die Bedeutungslosigkeit, zerrinnt. Ob halb zehn oder drei viertel zwölf – was macht das schon. Wir sind unterwegs auf dem Weg zum Wesentlichen, auf einer Reise zur Reduktion. Nur weg mit dem Ballast. Und es geht weiter. Mit langen Atemübungen, tiefen Zügen durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus. Um zwischendrin wieder dazuliegen mit vollen und wieder entleerten Lungen, um in sich hineinzuhören.
Es geht an die emotionale Substanz
Irgendwann wirken die Übungen in all der meditativen Stille in einem selbst und ringsherum, als vernehme man ein leichtes Rauschen. Nein, es ist weder das Surren einer Klimaanlage noch die Spülmaschine vom Restaurant nebenan. Vielleicht hat sich ja vielmehr doch das alte tibetische Sprichwort bewahrheitet: „Wenn man ruhig genug ist, wird man den Fluss des Universums hören.“
Für manche gehen gerade die Atemübungen mächtig an die emotionale Substanz, einige haben danach Tränen in den Augen oder fangen an zu weinen. Die Besinnung auf sich selbst und das Atmen habe in dieser Atmosphäre freudige wie traurige Erinnerungen hervorgerufen, sagen sie, ganz frische und alte, längst vergessene, die nun wieder aufgebrochen sind.
Wer sich dem nicht öffnet, mag denken, so eine Veranstaltung sei esoterisch gspinnerter Mumpitz. Wer aber dabei ist und sich bewusst darauf einlässt, denkt das nach dieser Erfahrung garantiert nicht mehr. Es ist ganz real.
Die Watschn nach dem Mittagessen
Das Vormittagsprogramm endet um halb zwölf und wir freuen uns auf die stärkende Tomatensuppe. Da schallt schon die Drohung von Moritz durch den Raum: „Nach dem Mittagessen gibt’s die Watschn.“ In der Gestalt der Eistonne unten am Zugspitzplatt, das wir mit der Gletscherbahn erreichen.
Vor dem Igludorf stehen zwei Saunahütten, die dienen uns als wohltemperierte Umkleidekabinen. Dann geht es in der Badehose raus in den Winter. Zehn Meter sind es nur bis zur eineinhalb Meter tiefen Eistonne. Weil das Wasser darin mit seinen rund drei Grad offenbar noch nicht kalt genug ist, schippt Moritz mit seiner großen Schaufel noch ordentlich Schnee rein. Wir sollen die Kälte akzeptieren und sie einfach zulassen, sagt er noch. Bei minus vier Grad Außentemperatur ist es im Wasser schließlich beinahe warm.
Überraschende zwei Minuten halten wir es alle aus, immer mit ruhiger, tiefer Atmung, ohne in panisch hechelnde Schnappatmung zu verfallen. Und ja, es ist saukalt. Aber es belebt. Und es beglückt dank der ausgeschütteten Hormone Serotonin und Noradrenalin, wie Moritz später erklärt, nachdem man sich in den Saunahütten wieder in warme Kleidung gepackt hat.
Innerlich gestärkt und beseelt von diesen Stunden tiefer Empfindungen und eisigen Erfahrungen geht es über die Gipfelstation zurück ins Tal. Und ja: Das Auto war abgesperrt, aber wo war das Parkticket noch mal? Die kleinen „Probleme“ des Alltags sind schnell wieder da.
Im langen Stau kurz hinter dem Tunnel Farchant macht sich schon wieder Sehnsucht nach dieser besonderen Stimmung breit. Sehnsucht, den Atem zu umarmen und das Leben. Nach dem Nichtstun. Nach dem Nichtsdenken. Einfach nur sein.