Der Biergarten ist ein bayerischer Kultort. Warum das so ist und wie es dazu kam, erkundet der Münchner Schriftsteller Thomas Grasberger. Ein wichtiges Stück bayerischer Lebensart
Was kann der Biergarten?
Manch großes Wort wird gelassen ausgesprochen. Mitunter zu gelassen. „Komm, wir gehen heute in den Biergarten", spricht er und entführt seine Partnerin an einem lauen Sommerabend zu einem jener Orte, die ihm als Inbegriff bayerischer Gemütlichkeit erscheinen.
Zwischen den aufgeheizten Hauswänden der Stadt kommt das Paar im Freien zum Sitzen, an einem der runden Klapptische mit rot-weiß-karierter Decke und farbenfrohem Blumenschmuck. Während Beton-Kübelgewächse etwas Gartenhaftes imitieren, entsteht im Schein der bunten Außenlichterkette ein fast mediterranes Ambiente.
Man wähnte sich im Süden, wäre da nicht über dem Eingang unübersehbar das Schild, das in Fraktur – weiß auf blau – versichert: „Bayerischer Biergarten!" Dort lässt sich unser Paar nieder…
Biergarten-Regel 1: Kein Platz für Waschbeton
Er trinkt zwei Halbe Münchner Helles, sie ein Gläschen Riesling aus Franken, während die bienenfleißige und stets gutgelaunte Bedienung leidlich warmes Essen aus der Küche an die Tische balanciert. Es wird bestimmt ein gemütlicher Abend werden, nur eines wird am Ende doch gefehlt haben: der Biergarten!
Noch Freischank-Fläche oder schon Biergarten?
Der gute Mann hätte vorab besser in der bayerischen Biergartenverordnung vom 20. April 1999 nachgelesen. Schnell hätte er erkannt, dass er seine Liebste nur auf eine Freischankfläche führt, keineswegs in einen echten bayerischen Biergarten.
Ein solcher zeichnet sich durch zweierlei aus: Erstens die Möglichkeit, dort auch die mitgebrachte, eigene Brotzeit unentgeltlich verzehren zu können. Und zweitens durch seinen Gartencharakter.
Ob dafür ein paar Topf-Pflanzen reichen? Eher nicht, entschied der Bayerische Verwaltungsgerichtshof im Jahr 2019: „Das Idealbild des Biergartens ermöglicht, unter großen Bäumen im Schatten zu sitzen. Insoweit bestehende Defizite können durch kleinere Anpflanzungen innerhalb der Anlage nur beschränkt kompensiert werden.”
Biergarten-Regel 2: Viel Kastanien, keine Tischdecken
Ein paar stattliche, schattenspendende Kastanien sollten es schon sein. Und drunter bittschön keine bunten Tischdeckchen, Blümchen oder anderes Chichi, sondern eine schnörkellose und stabile bajuwarische Biergartengarnitur. Die ist zwingend erforderlich, damit all die handfesten und nahrhaften Speisen aufgetischt werden können, die der Gast im Brotzeitkorb von daheim mitbringt.
Biergarten-Regel 3: Immer mit Brezn und Obatztem
Dazu gehören der kunstvoll zur Ziehharmonika aufgeschnittene, gut gesalzene Radi und die saftigen, knallroten Radieserl. Schwarzbrot und knusprige Brezn sollten auf keinen Fall fehlen, ebenso wenig frische Butter, Essiggurken, Griebenschmalz, Emmentaler und Wurstsalat (bayerischer, versteht sich).
Als Krönung – meist ganz zuletzt und feierlich vom Schöpfer persönlich kredenzt – ein aus Weichkäse und Butter mit der Gabel eigenhändig zerdrückter, ultimativ fluffig-cremiger Obatzter! Womit im Großen und Ganzen alles beinander wäre, was für einen perfekten Sommerabend an dem bayerischen Kultort Biergarten notwendig ist.
Und was ist mit dem Bier?
Fehlt nur noch jenes göttliche Fluidum, das liebevoll aus einer Bierzapfanlage heruntergelassen wird. Bier gibt unserem epikureischen Garten nicht nur seinen Namen, sondern führt ihn erst zu seiner wahren Bestimmung.
Schließlich sind Biergärten von Haus aus eher Schank- als Speisewirtschaften. Deshalb wird in einer Örtlichkeit, die den Namen Biergarten verdient, kein Mensch zum Essen genötigt – und nur die Allerwenigsten müssen dort zum Trinken gezwungen werden. Schon aus Respekt vor der bayerischen Geschichte!
Die Geschichte des Biergartens
Entstanden sind Biergärten im 19. Jahrhundert in München. Damals wurde nur in den Wintermonaten gebraut, mit Hefen, die bei niedrigen Temperaturen zwischen vier und neun Grad gären. Dieses sogenannte untergärige Bier musste im Sommer kühl gelagert werden, weshalb die Münchner Brauer tiefe Keller in die Fluss-Terrassen an der Isar graben ließen, um darin ihre edlen Erzeugnisse auf Eis zu legen.
An der Oberfläche dieser unterirdischen Gewölbe streuten sie dann reichlich Kies aus und pflanzten schattenspendende, flachwurzelnde Kastanienbäume zur Kühlung. Schnell noch ein paar Holztische und Bänke aufgestellt: Fertig war der Bierkeller!
Am Anfang war der Bierkeller. Dann kamen Kies und Kastanien
Die erforderliche Schankerlaubnis erteilte Bayerns erster und im Volk höchst populärer König Maximilian I. Joseph im Jahr 1812. Die Untertanen dankten es ihm über die Maßen und Massen.
Die neuen Open-Air-Locations erhöhten den Freizeitwert der damals provinziellen Isar-Stadt erheblich. Fortan taten die Münchner, was sie im Sommer bis heute am liebsten tun: Zuhauf in die großen Kellerbiergärten strömen, von denen heute immer noch einige in Betrieb sind.
Weniger begeistert von der neuen Konkurrenz waren die Gastwirtschaften. Damit sie nicht das Nachsehen hatten, verfügte die bayerische Obrigkeit in ihrer grenzenlosen Weitsicht: „Das Abreichen von Speisen und anderen Getränken bleibt ihnen (den großen Bierkellern) ausdrücklich verboten.” Wer seine Mass im Schatten der Kastanienbäume genießen wollte, musste seine Brotzeit selbst mitbringen. Streng juristisch gesehen war das die Geburtsstunde des traditionellen Biergartens.
Aber lang hielt diese behördlich verordnete Arbeitsteilung nicht – die schlauen bayerischen Wirte bepflanzten ihre Gastgärten bald mit Kastanien, stellten Tische und Bänke drunter und verkauften zum warmen Essen nun auch kühles Bier.
Der Unterschied zwischen den traditionellen Bierkellern der Brauer und den Gartenwirtschaften verschwamm immer mehr. Und heutzutage? Fast jeder mit Waschbetonplatten gepflasterte Hinterhof zwischen Duisburg und Dinslaken schmückt sich mit dem Schild „Biergarten”. Besonders dreiste Nordlichter sollen dabei sogar das Attribut „bayerisch” verwenden. Nun, es sei ihnen verziehen! Vor Gericht wird deshalb wohl niemand ziehen, weil juristische Spitzfindigkeiten am Biertisch eher nichts verloren haben.
Biergarten-Revolution: Das Volk erhebt sich
Mitte der 1990er Jahre war das ausnahmsweise anders. Bei der sogenannten Biergartenrevolution demonstrierten damals tausende Bayern gegen eine richterliche Anordnung aus Berlin. Die forderte: Drastisch verkürzte Öffnungszeiten für bayerische Biergärten wegen „gebietsunverträglicher Emissionen", vulgo Lärm! Kein Wunder, dass die hiesige Volksseele schäumte wie eine frisch gezapfte Wiesnmass.
Der Revolutionsrauch ist längst verzogen, die alte Ordnung wiederhergestellt. Heute setzt der Eingeborene daher wieder auf Frieden und Gemütlichkeit, vorausgesetzt er oder sie findet einen Platz im Biergarten. Was manchmal gar nicht so einfach ist. Mancherorts drängen sich oft Tausende von Bierhungrigen unter den Kastanien. Gott sei Dank gibt´s zahlreiche Gelegenheiten zum Ausweichen.
Zen mit einer Mass Bier, oder zwei
Jene heiligen Orte, an denen der Bayer an mild-warmen Sommerabenden ganz zu sich selbst kommen und seiner eigentlichen Bestimmung entgegenmeditieren kann. Das Ziel eines gelungenen Biergartenabends ist nichts Profanes wie ein Rausch oder eine platte Gaudi, sondern die tiefe Erkenntnis der Einheit allen Seins, aller Menschen, Tiere und Pflanzen.
Auch Standes- und Einkommensunterschiede treten etwas in den Hintergrund. Im Biergarten sind (fast) alle gleich, zumindest für die Dauer einer Mass oder zwei. Wie der schweigsame Solo-Sitzer, der seit Stunden regungslos wie ein Zen-Mönch vor sich hinschaut und bereits einen höheren Grad der Erkenntnis erreicht zu haben scheint. Andere sitzen zu zweit oder zu mehreren, ganz unaufgeregt und heiter-gelassen, ohne heftige Diskussionen und Debatten.
Vielredner oder Streithansel werden nicht gern gesehen. Man will halt nur seine „Ruah" haben, prostet sich freundlich zu, tauscht ritualhaft ein paar Worte aus und versenkt sich wieder in jenen friedvollen Zustand, der mit Gemütlichkeit nur unzureichend umschrieben ist.
Welcher Biergarten ist der schönste im Land?
Welcher Biergarten der schönste sei, das wird in Bayern wie eine Glaubensfrage behandelt. Welcher kommt ihm dem Ideal eines magischen Kultorts am nächsten, an dem der bayerische Mensch an einem heißen Sommertag sein kosmisches Gleichgewicht wiederfinden kann?
Die Meinungen gehen weit auseinander, jeder hat seine ganz persönliche Vorstellung vom Himmel auf Erden. Eine echte Glaubensfrage also, die den Bayern sein ganzes Leben lang beschäftigt.
Und manchmal sogar darüber hinaus. „Die Leich´ vom Huaba Schorsch is' hinten im Salettl", rief vor einigen Jahren die kernige Kellnerin eines Münchner Biergartens den Neuankommenden zu. Anwesende Gäste aus dem Norden blickten verdutzt drein, wurden von den Einheimischen aber schnell aufgeklärt.
Es war nicht der Leichnam vom Huber Georg, der im hölzernen Pavillon des Biergartens aufgebahrt war. Es war nur die Trauergemeinde, die sich dort zum Leichenschmaus einfand. Wo auch sonst? Schließlich war der Schorsch zeitlebens ein passionierter Biergarten-Geher. Ein besserer Ort zwischen Himmel und Erde wäre für die Leich´ vom Huber wohl kaum zu finden gewesen.