Die Fraueninsel im Chiemsee ist ein beliebtes Ziel für Tagesausflügler. Das Kloster Frauenwörth bietet viele Seminare zu Meditation, Entspannung und Gesundheit an. Wir haben Qi Gong, die Kunst der „steten Arbeit an der Lebenskraft“, ausprobiert
Qi Gong im Kloster Frauenwörth
Gehen, einfach nur gehen. Aber langsam. Kurz innehalten, wenn der vordere Fuß im morgenfrischen Gras aufsetzt. Spüren, wie sich die Ferse löst. Den nächsten Schritt vorbereitet. Ankommen. Den nächsten Schritt gehen. Innehalten. Darauf konzentrieren sich die 15 weiblichen und zwei männlichen Teilnehmer, viele haben den Blick gesenkt. Auch ich gehe voll in einem merkwürdigen Storchengang auf, der See und die Berge im Hintergrund sind im Moment nur Kulisse.
Rund 20 Minuten lang lässt Qi-Gong-Lehrer Wolfgang Schmidtkunz die Teilnehmer seines Kurses einfach nur gehen. Danach stehen alle in einem großen Kreis. Wolfgang fragt nach ihren Eindrücken. Eine Teilnehmerin kann die Tränen nicht zurückhalten: „Es ist mir so peinlich, aber ich habe mich endlich wieder einmal gespürt! Ich glaube, dass ich sonst im Alltag meine Emotionen immer wegdrücke.“
Locker werden mit Musik
Peinlich muss einem gar nichts sein an diesem Wochenende. Das beginnt schon bei der ersten Einheit am Freitagabend. Im schönen, hellen Seminarraum unter dem Dach des Klosters Frauenwörth dreht Wolfgang kurzerhand die Musik auf und fordert die Gruppe zum Tanzen auf.
Zu Salsa-Klängen und Joe Cocker wirbeln einige regelrecht los, andere wippen nur etwas steif im Stehen, aber alle machen mit. Energie erfüllt den Raum. Danach folgt das Kontrastprogramm: 20 Minuten still sitzen, ohne den Rücken anzulehnen.
Als mir der Schneidersitz doch zu unbequem wird und ich langsam die Beine ausstrecke – die Gelenke knacken erschreckend laut! – sehe ich, dass einige sich mit leichten Wolldecken unter dem verlängerten Rücken eine bessere Sitzposition geschaffen haben. Clever! In der folgenden Vorstellungsrunde stellt sich auch heraus, dass rund die Hälfte der Teilnehmer Qi Gong bereits bei verschiedenen Reha-Maßnahmen kennengelernt und nach einer Gelegenheit gesucht hat, dranzubleiben.
Strategien, um zur Ruhe zu kommen
Ähnlich unbeholfen wie ich rutscht Thomas auf seiner Matte herum. Er hat den Kurs geschenkt bekommen und erhofft sich, als „Büromensch“ Übungen zu lernen, die er in seinen Alltag integrieren kann: „Langsam fängt es an, hier und dort zu zwicken, da möchte ich gern vorbeugen.“
Silvia, eine hibbelige Sales-Managerin um die 60, verspricht sich Strategien, um besser zur Ruhe kommen zu können. Überhaupt scheint vielen Teilnehmerinnen das permanente „Kino im Kopf“ Probleme zu bereiten. Sabine und Ute hingegen üben schon seit vielen Jahren Qi Gong und freuen sich darauf, mit einem anderen Lehrer mal wieder Basisarbeit zu machen.
Es geht um die „Pflege des Lebens“
„Altes ausstoßen, Neues aufnehmen“, das sei eines der ursprünglichen Ziele von Qi Gong, dieser Jahrtausende alten chinesischen Tradition zur Entspannung, Gesunderhaltung und zur ,Pflege des Lebens’“, sagt Wolfgang. „Qi bedeutet Energie, Gong das beharrliche Üben“, ergänzt er mit einem feinen Lächeln. Im Grundkurs gehe es vor allem darum, den Körper für den Energiefluss zu öffnen…
„Altes ausstoßen, Neues aufnehmen.“
„Das fängt damit an, aufgerichtet und bewusst zu stehen“. Die schönen, fließenden Qi-Gong-Bewegungen, auf die sich einige Teilnehmerinnen gefreut haben, müssen warten, zunächst sind Grundlagen angesagt. Geradestehen, den Körper ausrichten, Innen- und Außenseite der Füße aktivieren. Hineinspüren, wie man richtig steht. So ganz einfach ist das nicht, wenn gerade ein Erpel vorbeiwatschelt und die Übenden am Chiemseeufer kritisch zu beäugen scheint.
Bewusstseins- und Entspannungstechnik
Wolfgang selbst war über vierzig, als er auf dieses uralte chinesische Lebensprinzip stieß. „Ich wusste sofort, das ist es“, sagt er mit leuchtenden Augen. Bald ließ sich der Psychotherapeut nebenbei zum Qi-Gong-Lehrer ausbilden.
Seit mehr als 20 Jahren bietet er mindestens neunmal im Jahr seine Seminare auf der Fraueninsel an, jeweils im Wechsel Grund- und Aufbaukurse. Mitte der 1990er lernte er auf einer Business-Veranstaltung Frau Scholastica kennen, die das Seminarprogramm des damals finanziell klammen Klosters aufbaute und es heute noch leitet.
Qi Gong als Bewusstseins- und Entspannungstechnik würde doch wunderbar zum Angebot hinter Klostermauern passen, befand damals die ebenso resolute wie weltoffene Nonne. Wolfgang schlug ein.
Mittlerweile ist das inzwischen breitgestreute Seminarangebot auf der Fraueninsel so beliebt, dass Frau Scholastica mit den Buchungen kaum noch hinterherkommt und darum bittet, dass Interessenten sich nicht im Kloster, sondern bei der jeweiligen Seminarleitung anmelden.
Eine besondere Insel
Durch seine zahlreichen Chiemsee-Urlaube wusste Wolfgang schon lang vor seiner Tätigkeit im Kloster, dass die Insel Frauenwörth ein idealer Ort ist für die Arbeit an Leib und Seele. Nur 250 Menschen leben dort, darunter die derzeit 15 Benediktinerinnen des Klosters. Vom Frühjahr bis in den Herbst hinein können sich die Besucher an herrlichen Gärten erfreuen, oft sind sie vor malerisch-windschiefen Holzhäusern angelegt. Fischerboote schaukeln in winzig kleinen Anlegehäfen an der Ostseite der Insel.
Als ich auf einer Bank nahe der Anlegestelle das See- und Bergpanorama auf mich wirken lasse, kommt ein Pärchen vorbei. „Was für eine geile Insel!“, ruft der junge Mann ehrlich begeistert. Später sehe ich die beiden im Dorfladen wieder, dem Kommunikationszentrum der Insel direkt hinter der aus dem 8. Jahrhundert stammenden Torhalle.
„Was für eine geile Insel!“
An ein paar Tischen im Freien kann man hier auch einen guten Kaffee genießen. Verschämt fragt eine Mittvierzigerin, ob es auf dieser „gesunden Insel“ auch Zigaretten gebe, sie würde ja so gern mal wieder eine rauchen. Die Besitzerin öffnet eine Schublade und schiebt mit Verschwörermiene ein Päckchen über den Tresen.
Die „Welle“ dehnt den Rücken
Am Samstagmorgen lässt Wolfgang uns um sieben Uhr in der Frühe in sehr schnellem Schritt einmal rundherum laufen. Alle sind voller Elan dabei. Nach 20 Minuten sind wir wieder am Kloster angelangt, manche etwas schnaufend. Wolfgang betont: „Für Gesundheit und Vitalität ist es enorm wichtig, den Kreislauf in Gang zu bringen und die Muskulatur zu kräftigen.“
Dann folgt das langsame Gehen. Und die sogenannte Welle, eine wunderbar effektive Übung, um Rücken und Wirbelsäule zu strecken und zu dehnen. Thomas hat den Ablauf schnell drauf und ist sicher: „Das werde ich auch zuhause üben, das tut dem Rücken richtig gut!“ Auch mir sagt die kurze Abfolge sehr zu.
Curry und Dhal statt Schweinsbraten
Nach der morgendlichen Übungs-Einheit geht es zum Frühstück im Kloster. Brot, Butter, Käse, Müsli, Obst, Kaffee und Tee. Aber es gibt auch zwei Platten mit gekochtem Reis, der eine mit Zimt verfeinert, der andere pikant gewürzt. Nicht jede traut sich ran.
Auch beim Mittagessen steht eher Ungewohntes auf dem Büffet: Ein leicht scharfes Curry mit Kichererbsen und das indische Linsengericht Dhal, dazu Salat. Spinat ist mit Bockshornkleeblättern, Ingwer und Kardamom verfeinert, dazu gibt es feine, kleine Kartoffeln. Zum Nachtisch Mango-Crème. Ganz schön exotisch auf einer bayerischen Insel, die eigentlich für ihren Räucherfisch berühmt ist und auf der die meisten Inselwirte Schweinsbraten & Co. servieren.
Lust auf Ayurveda-Küche?
Zwischen den Tischen der verschiedenen Seminargruppen – heute sind auch noch ein „Kinaesthetics“-Grundkurs für kreatives Lernen und eine Yogagruppe da – bewegt sich ein schmaler Mann in rosafarbener Kochjacke. Für den gebürtigen Inder Nicky Sitaram Sabis, den alle nur „Nicky“ nennen, war der Mitte der Neunzigerjahre einsetzende Seminarbetrieb auf der Fraueninsel ein Segen.
Wolfgang suchte einen Koch, der leichte, gesunde Kost für seine Seminarteilnehmer anbieten könnte. Nicky war zu Stelle und kocht nach ayurvedischen Grundsätzen, aber verträglich für westliche Gaumen. Dennoch entnehme ich dem Getuschel am Nebentisch, dass Fleisch gerade arg vermisst wird.
Am Sonntag, zum Abschiedsessen, wird es Hühnchen geben, da sieht Nicky die ayurvedische Tradition nicht zu eng. Gut gewürzt wird es in jedem Fall sein und selbstverständlich umrahmt von vegetarischen Gerichten. Für Gruppen bietet Nicky auch ayurvedische Kochkurse an, dann geht es ein wenig tiefer zur Sache.
Dieser Ort macht was mit einem
Was haben wir gelernt in diesen zwei Tagen, was nehmen wir mit? Ute fand die Atmosphäre in der Gruppe sehr „unterstützend“ und genoss vor allem die abendliche Ruhe auf der Insel. Silvia ist zuversichtlich, dass einige Übungen sie mehr erden werden. Für Thomas war der Kurs durchaus anstrengend, aber er nimmt sich fest vor, die „Welle“ in seinen Alltag zu integrieren.
„Dieser Ort ist ein Geschenk!“
Sabine, die Qi Gong seit 12 Jahren übt und selbst unterrichtet, schätzt die Rückbesinnung auf die Grundlagen, die Aufrichtung, das bewusste Gehen. Für mich ist es das wunderbare Zusammenspiel aus inspirierender Umgebung und einem neuen Körperbewusstsein. Oder wie Schwester Veronica an der Klosterpforte beim Abschied sagt: „Dieser Ort macht etwas mit einem, er ist ein Geschenk!“ Als die Fähre hinüber nach Prien ablegt, hinein ins Alltagsleben, spüre ich das ganz deutlich.