Alpenpflanzen sind nicht nur schön. Sie besitzen Heilkraft und Magie. Wir gingen mit Kräuterexpertin Astrid Süßmuth in die Berge und staunten. Zu jedem noch so unscheinbaren Kraut weiß sie etwas zu erzählen
Mit Kräuterexpertin Astrid Süßmuth am Jenner
Was, wenn wirklich freundliche Zwerge unter dem blauen Schnee-Enzian leben? Gentiana nivalis, im Volksmund Himmelsstengel genannt, ist der zierliche Bruder des Glockenenzians, den jeder kennt. Er schreit nicht so laut, seine Blüten sind klein, aber sie strahlen in einem fast überirdischen Himmelblau.
Astrid Süßmuth ist hingerissen, als sie das zarte Gewächs in der Uferlandschaft am Königssee bei St. Bartholomä entdeckt. „So selten ist der!“, ruft sie und kniet sich vor die Pflanze, um sie zu bestaunen. „Die Geschichten über die Zwerge habe ich vom Opa. Aber ist das nicht wirklich ein sehr besonderer Platz hier?“
Himmelblau und Wollgraspuschel
Helltürkis leuchtet der See am seichten Ufer, die Färbung fällt schnell ab in tiefes Smaragd. Steil ragt der Gotzenstein aus dem Wasser auf, schräge Sonnenstrahlen fallen auf Simetsberg und Halsköpfl über dem Salet am Ende des Königssees. Ein Pfad führt durch lichten Wald und Wiesen in Ufernähe. In St. Bartholomä, wo das Boot aus Schönau angelegt hat, gibt es Bier, Fisch und Remmidemmi, nur wenige Schritte entfernt beginnt das Zauberland.
Weiße Wollgraspuschel tanzen über einer Feuchtwiese. Auch die bizarre Teufelskralle, das kleine Knabenkraut und die duftende Mückenhändelwurz entdeckt Astrid Süßmuth am Wegrand.
Astrid hat Bücher über die Alpenflora geschrieben und leitet jedes Jahr eine Ausbildung zum Thema Kräuterheilkunde
Wenn sich jemand auskennt, dann sie: Astrid hat mehrere Bücher über die Alpenflora geschrieben, bestreitet eine Kräuterserie im Bayerischen Rundfunk und leitet jedes Jahr eine Ausbildung zum Thema Kräuterheilkunde. Dazu kommt eine Naturheilpraxis bei München und ihr Einsatz für den Alpenverein. Woher nimmt sie die Begeisterung für Gewächse aller Art? Das sei kein Wunder, meint sie, der Opa habe sie in die Geheimnisse des Pflanzenreiches eingeführt.
Die Mutter, das wilde Huhn
„Mein Opa, der Imker-Sepp, war immer in den Bergen unterwegs. Manchmal durfte ich mit. Im Karwendel ließ er mich über schmale Gebirgspfade, Bäche und Felsbrocken springen, er konnte spannend erzählen, noch so unscheinbare Pflanzen beschrieb er wie geheimnisvolle Wesen. Auch meine Mutter war ein wildes Huhn, die hat einst mit dem Hanfseil sogar die Direttissima-Route am Olperer-Westgrat bezwungen.“
Großvaters Sagen und volkskundliches Wissen ergänzt die Enkelin mit Beiträgen aus der aktuellen Forschung. „Fachzeitschriften über Phytotherapie bestätigen häufig das Heilwissen der Vorfahren. Es wird zum Beispiel in den Schriften zur Klostermedizin abgehandelt“, weiß sie.
„Manche Orchideen waren früher wertvolle Überlebensmittel“
„Manche Orchideen waren früher wertvolle Überlebensmittel. Die Wurzelknollen vom Kleinen Knabenkraut hat man zu Brei gekocht und kranken Kindern als Kraftnahrung gegeben.
Mit der Teufelskralle retteten sich Hirten oder Bergsteiger über Erschöpfungszustände hinweg, indem sie die bizarren Blüten kauten. Das ungiftige Glockenblumengewächs enthält viel Stärke und in den Blättern steckt Folsäure. Heute kauft man sich Energieriegel oder Survival-Nahrung.“
Waldvöglein als Dämonenschutz
Astrid findet eine duftende Waldhyazinthe und ein Rotes Waldvöglein, eine zarte, violett blühende Orchidee, die Cephalanthera rubra. „Mein Opa wusste: Wenn Dämonen auf einen einstürmen, solle man in der Nähe eines Waldvögleins verweilen.“ Gute
Idee, die Stelle hier am Waldrand ist überaus friedvoll und abgeschieden. Wenn einem alles über den Kopf zu wachsen droht, kann man hier sicher zur Ruhe kommen. Aber der Rat ist nicht leicht zu befolgen.
Das Waldvöglein blüht nur alle paar Jahre, eines zu finden bedeutet großes Glück. Es kommt nur in gesunden Bergwäldern vor, die über ein Mycel, ein unterirdisches, weit verzweigtes Pilzgeflecht, mit den Pflanzen verbunden sind.
Süßes statt Sex
Bei der Fliegenragwurz (Ophrys insectifera) gerät die Kräuterspezialistin endgültig aus dem Häuschen. „Die kannte ich bis jetzt nur aus der Literatur, sie wächst angeblich im Sylvenstein-Gebiet und im Lechtal. Ich habe aber nie eine gefunden“, staunt sie.
Die meisten Spaziergänger würden wohl an der Orchidee einfach vorbeigehen. Nur wer genau schaut, erkennt, wie raffiniert ihre Blüten sind. Sie sehen aus wie kleine Fliegen mit einer schillernden, blauen Bauchbinde. Die Fliegenmännchen wollen sie begatten, denn sie riecht auch nach Fliegendame. Statt Sex bekommen sie Nektar – auch nicht übel! – und gleichzeitig bestäuben sie die kleinen Ragwurzstempel.
Auf mehr als 3.000 Vokabellernkarten hat Astrid Süßmuth schon als Schülerin Informationen über Botanik, Heilwirkung und Mythologie von Alpenpflanzen gesammelt. Der Phantasy-Roman „Die Nebel von Avalon“ und ihr Opa Sepp haben sie zu dieser Katalogisierung angeregt. Im Roman kommen Zauberblumen vor, vom Alpkraut über Nixenkraut, Orangebecherling und Elfenbeinschneckling bis zum Zuzzelkraut.
„Die Pflanzenwelt der Alpen ist unglaublich vielfältig“, bekräftigt Astrid. „Inzwischen sind die Kärtchen auf eine riesige Word-Datei angewachsen, aus der vielleicht ein Kompendium wird.“ Fertig ist sie allerdings noch lange nicht, schließlich gedeihen in den Alpen ungefähr 13.000 Pflanzenarten. Bei jeder Tour begegnet sie neuen.
Von oben auf Wolken blicken
Astrids ureigenes Biotop beginnt erst dort so richtig, wo sie ein paar Wolken von oben betrachten kann. Der Jenner mit 1.800 Meter Höhe ist ein Anfang. Sie beobachtet, wie dichte Nebel den fast tausend Meter höheren Watzmann verhüllen.
„Heute wäre ein Aufstieg gefährlich“, urteilt sie. Natürlich war sie da schon oben, wie auch auf vielen anderen Alpengipfeln. Für Kräuterwanderungen mit der Gruppe eignet sich der Jenner. Die Seilbahn ermöglicht es auch weniger trainierten Besuchern, einige Alpenpflanzen kennenzulernen und den grandiosen Blick auf den Königssee zu erleben.
Der Trigger? Wildblumenpflücker
„Ich mache diese Führungen, um den Menschen die Fülle des Lebens hier oben nahezubringen“, erklärt Astrid ihre Beweggründe, „Was man liebt, zerstört man nicht. Das hoffe ich. Wir betrachten und staunen nur. Hier im Nationalpark Berchtesgaden darf man nicht mal einen Grashalm pflücken, Hunde müssen an die Leine, die Wege soll man nicht verlassen. So einfach sind die Regeln, die übrigens auch unten am See gelten. Trotzdem setzen sich die Leute immer wieder darüber hinweg, obwohl es für die Vergehen deftige Strafen setzt.“
Astrid ist eigentlich ein gut gelaunter Mensch, aber wenn sie liegengelassene Hundesackerl und Ignoranten mit Blumensträußen in der Hand sieht, wird sie sauer.
Auffallend schön: Alpenanemone
Doch für schlechte Laune ist es viel zu schön hier. Da wächst in hellen, gelben Flecken der Wundklee. Gleich daneben strahlen, wie von einem talentierten Gärtner zusammengestellt, weiße Alpenanemonen und violette Kugelblumen. Die Alpenanemonen sind auffallend schön, aber sobald sie verblüht sind, heißen sie „Grantiger Jager“ und „Teufelsbart“, weil sich die hübschen Blüten in struppige Bärte verwandeln.
Zu dem puscheligen, gelb blühenden Wundklee erzählt Astrid Süßmuth eine ihrer vielen Geschichten. Weiße Magie stecke in dem anspruchslosen Pflänzchen, das auch im Tal am Wegrand wächst. Als „Verschreikraut“ halte es Unheil fern, deshalb gab man es in Berchtesgaden früher in das Badewasser von Neugeborenen.
Später, wenn die Babys zu Teenys herangewachsen sind, hilft eine Tinktur oder ein Hydrolat aus Wundklee gegen das Unheil der Pubertätspickel und im weiteren Verlauf des Lebens gegen Husten sowie gegen alle möglichen Verletzungen.
Gelb, glänzend, giftig!
Astrid Süßmuth warnt vor den kugeligen Trollblumen, die im Juni die Alpenwiesen schmücken. Rachsüchtige Trolle seien daran schuld, dass für das hübsche Hahnenfußgewächs die 3-G-Faustregel gilt, behauptet sie lachend.
Die Trolle, diese klitzekleinen Naturwesen, lebten in den Blütenköpfen, Kinder schusserten mit den Bällchen, den Trollen wurde übel. Um ihre Ruhe zu haben, zauberten sie Kontaktgift an ihr Gehäuse. „Selbstverständlich sind es einfach nur Mücken, die ihr Zuhause in den Kugelblüten haben. Wir fanden es als Kinder lustig, diese rauszuschütteln.“
Edelweiß und Enzian
Dieses Duo ist untrennbar mit den Alpen verbunden. Die beiden Stars zieren Wappen, Postkarten, Broschüren, Souvenirs und Schnapsflaschen. Neben ihrer hohen Symbolkraft beweisen sie auch Heilwirkung.
Das Edelweiß wirkt antibakteriell, in der Volksmedizin wurde es gegen Bauchweh eingesetzt. Aber nicht für eine ungestörte Verdauung riskierten liebestolle Burschen ihr Leben, vielmehr kletterten sie auf ausgesetzten Pfaden, um mit einem fast unerreichbaren Edelweiß ihr Madl zu beeindrucken. Enzian ist leichter zu finden! Auf dem Jenner leuchten die blauen Blumen an Wegrändern und in Matten.
Es sind die Bitterstoffe der Wurzel des Gelben Enzians, die nicht nur für Schnapsbrenner so wertvoll sind. Sie wirken kräftigend, ausgleichend auf das Immunsystem und fiebersenkend. Jederzeit stimmungsaufhellend sei das Stamperl Enzian – auch das wussten schon die Urahnen.
Gold für die Silberwurz!
Das Wahrzeichen der Alpen ist die Silberwurz (Dryas octopetala). Die zähe und genügsame Pflanze wird bis zu hundert Jahre alt und übersteht extreme Klimaschwankungen. Überreste der Pflanze fanden Forscher in großer Menge in eiszeitlichen Tonablagerungen. Nach ihr ist die Dryas-Zeit benannt, die „Silberwurz-Zeit“, als die letzte Eiszeit vor etwa 14.000 Jahren ausklang. Vielleicht bereiteten sich schon die Steinzeitmenschen Aufgüsse aus ihren Blättern zu, schließlich sollen sie gegen Nervosität helfen.
„Wahrscheinlich würde die Silberwurz die nächste Erderwärmung überleben. Vielleicht schaffen wir es aber, den unfassbaren Reichtum zu schützen, den die Natur uns bietet“, hofft Astrid.
Die Wolken über dem Watzmann haben sich dunkelgrau zusammengeballt und ziehen Richtung Jenner, aber auf der Halbinsel bei St. Bartholomä liegt ein Sonnenflecken. Zeit, sich einen Platz in der Nähe von Waldvöglein und Schnee-Enzian zu suchen.