Von Geistern und Dämonen, Eisenhutblättrigen Hahnenfüßen und heilenden Huminsäuren, von schaurigen Geheimnissen und den Schürfern des Schwarzen Golds. Unterwegs mit Naturkundlern, Torfgräbern und Bademeistern auf der Tour de Moor zwischen Blauem Land und Mangfalltal
Murnauer Moos, Auer Moos und Sterntaler Filze
Der Max macht das mit dem Anbaggern mit ganz viel Gefühl. Sachte setzt er die Schaufel an der Spitze des Greifarms am Boden auf. In beeindruckend feinmechanischer Filigranarbeit kratzt er mit diesem monströsen Koloss eine nur wenige Zentimeter dichte Torfschicht heraus, die sich als dünne Rollbahn in den Humuslöffel eindreht.
Das erinnert an eine dieser Baggerwetten bei „Wetten, dass…?“ oder an die Eisdiele ums Eck, wenn dort der Gelatiere mit seinem halbkreisförmigen Portionierer eine Kugel Nuss-Eis aus der Box schabt.
Rund 3.000 Kubikmeter Torf gräbt Max Panradl mit seinem Vater jährlich aus dem Auer Moos. Der Vater heißt auch Max. So wie seit Generationen alle erstgeborenen Buben der Panradls den Namen Max tragen, so graben sie in jahrzehntelanger Familientradition im Mangfalltal das Moor aus dem Boden, für die Heilbehandlungen nebenan in Bad Aibling.
Doch das ist nur eine der vielen Geschichten aus den Mooren, die wir auf unserer zweitägigen Reise durch die reizvoll-mystischen Landschaften im südlichen Oberbayern erleben.
So erfahren wir auch, wozu sich ein Moor so alles eignet. Zum Wandern und zum Wundern, zum Schauen und zum Staunen. Zum Baden und natürlich eben auch zum Baggern.
Murnauer Moos: Methusalemglocke und Geister
Wir beginnen unsere Erkundung am südwestlichen Ortsrand von Murnau. Dort treffen wir Helmut Hermann an der Info-Station neben dem Wanderparkplatz. Der Diplom-Biologe leitet alle 14 Tage Exkursionen durch das Murnauer Moos. So wie bei den Führungen erzählt er an diesem Tag auch uns von der Geschichte, der Fauna und Flora und den ökologischen Besonderheiten dieser verwunschenen Landschaft, deren Mystik sich schon nach wenigen Metern beim Ramsachkircherl offenbart.
Errichtet wurde die „Ähndl“ genannte Kapelle der Sage nach einst zum Schutz der Menschen vor bösen Moorgeistern und Dämonen. Innendrin befindet sich die wohl älteste noch existierende Glocke Europas, ein Mitbringsel iro-schottischer Wandermönche aus dem 8. Jahrhundert von der Insel Iona.
Die Wanderung führt an der Ramsach entlang, einem kleinen Bach, der sich aus dem Wasser der Ammergauer Alpen speist. Wir schlendern vorbei an bunten Blumen, von denen Hermann manche als Eisenhutblättrigen Hahnenfuß identifiziert, andere als Sibirische Schwertlilie.
Nach dem Ende der letzten Eiszeit vor rund 12.000 Jahren und dem Abschmelzen des einst 700 Meter dicken Gletscherpanzers hatte sich diese abwechslungsreiche Sumpflandschaft hier gebildet.
Durch die Bewirtschaftung der Flächen in den letzten Jahrhunderten aber, durch Baumaßnahmen und Entwässerungsgräben drohte dem Moor die komplette Austrocknung und Verwaldung – bis sich seit den 1930er-Jahren die Botanikerin und spätere Schulrektorin Ingeborg Haeckl für den Erhalt der Moorlandschaft engagierte, so Hermann.
Dank sei der „Moos-Hex“!
Der Einsatz der von Einheimischen als „Moos-Hex“ verschrienen Pädagogin und Aktivistin hatte Erfolg. Noch zu Haeckls Lebzeiten wurde 1980 ein Areal von 2.355 Hektar als Naturschutzgebiet ausgewiesen.
Das Murnauer Moos weise mit bis zu 18 Metern die größte Moortiefe in ganz Bayern auf, sagt Hermann. Und betont, dass es, wie alle Moore, als CO₂-Speicher einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz leiste.
Mehr Zahlen gefällig? Inzwischen sind wieder ein Drittel aller bayerischen Pflanzenarten im Murnauer Moos beheimatet, rund 1.000 von insgesamt 3.000. Mit gut 120 von etwa 240 ist die Hälfte aller bayerischen Vogelarten im Moor zu Hause, vom Braunkehlchen über die Bekassine bis zum Brachvogel.
Das Moor ist ein artenreicher, paradiesischer Lebensraum, eine Urlandschaft, deren größter Widersacher der Mensch ist. Etwa als Ausflügler oder Wanderer, der die ausgewiesenen Pfade wie den 12 Kilometer langen Moosrundweg verlässt und durch die schützenswerten Feuchtgebiete trampelt. Oft nur auf der sinnfreien Suche nach einer Abkürzung oder einem schicken Foto-Spot. Deswegen auch die zahlreichen Hinweistafeln mit der nachdrücklichen Bitte, auf dem Weg zu bleiben.
Was Hermann immer wieder fasziniert, ist die Vielfalt der Pflanzen im Wechsel der Jahreszeiten, von der gelben Trollblume über das weiße Wollgras und die rötlich-violette Färberscharte bis zum Herbstgras in dezentem Ockerton. Ein buntes Farbenspiel im Blauen Land.
Die ganze Schönheit dieses Naturreservats offenbart sich gegen Ende unserer Wanderrunde von einer Anhöhe aus: als prachtvolles Panorama samt Blicken über die Weite der Mooslandschaft auf die an diesem Tag wolkenverhangenen Gipfel der Ammergauer Berge und des Estergebirges mit den Felskanten des Wetterstein dazwischen.
Moore leisten als CO₂-Speicher einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz
Immer wieder erinnere ihn dieser Blick an eine Savanne, sagt Hermann, mit ihren breiten Grasebenen, vereinzelten Bäumen und Wasserstellen ist dies genau jene Vegetationszone in Afrika, in der einer These nach unsere Vorfahren einst von den Ästen stiegen. Das Murnauer Moos, Oberbayerns Antwort auf die Wiege der Menschheit? Je länger man hier steht und sinniert, desto geringer wäre die Verwunderung, würden da unten plötzlich Säbelzahntiger und Mammuts herumstreifen.
Wie eine Urlandschaft präsentieren sich tags darauf auf der zweiten Etappe unserer Tour de Moor auch die Sterntaler Filze bei Bad Feilnbach, ein Überbleibsel vom Rückzug des Inngletschers vor gut 10.000 Jahren und der Folge der Verlandung des Rosenheimer Sees. Der war mit seinen 420 Quadratkilometern einst fast so groß wie heute der Bodensee.
Auch hier drohte durch Austrocknung des Bodens und durch industriellen Abbau lange dauerhafte Verödung, bevor seit Beginn der Renaturierung und der Wiederbewässerung ab 2005 wieder viele Tier- und Pflanzenarten zurückkehrten.
Auf Holzbohlen über schaurige Kriegsrelikte
Heute führt ein rund 650 Meter langer Erlebnis-Rundweg auf Holzbohlen zu Aussichtspunkten und Picknickplätzen, zu Wurzelkletterhügeln, Balancierbäumen und zu Wolkenbeobachtungsstationen, breiten Hängematten aus Holz.
Schaurige Geheimnisse bergen die Sterntaler Filze auch. Im Zweiten Weltkrieg diente das Moor der deutschen Luftwaffe als Übungsareal für gezielte Bombenabwürfe. Vier Flugzeuge stürzten dabei ab. Da die Maschinen im weichen Boden versanken und nicht zu bergen waren, liegen die Wracks mit den Überresten der Besatzung noch heute in den Tiefen des Moors.
Weiter nordwestlich im Auer Weidmoos finden die Panradls garantiert nur Wurzeln und höchstens noch alte, vor langer Zeit gelegte Drainagen. Die sorzieren sie mit der Hand aus, bevor sie den abgebauten Torf auf ihren Laster kippen und etwa alle drei Wochen nach Bad Aibling in die Rosenheimer Straße fahren.
Heilender Brei dank Huminsäuren
Das dort angesiedelte „Kurmittelhaus Egger“ wurde vor Jahrzehnten von Meinrad Egger gegründet. Heute führt Sohn Andreas das Gesundheitszentrum für Mooranwendungen. Immer am frühen Abend rührt er den Torf mit Wasser an, bis das Moor eine breiartige Konsistenz aufweist und dunklem Pflaumenmus ähnelt.
Über Nacht erhitzt Egger das Gemisch in einem großen Kessel auf rund 42 Grad. Das ist jene Temperatur, bei der sich die Patienten am nächsten Tag in das Moor legen, das über ein Röhrensystem in eine der bis zu 250 Liter großen Badewannen fließt und dort aufgrund der Hitze ein künstliches Heilfieber erzeugt.
Moor gilt in Bad Aibling schon seit der Eröffnung der ersten Moorschlammanstalt im Jahr 1845 als bewährtes Heilmittel, anfangs kam es bei Frauen gegen Regelschmerzen und bei unerfülltem Kinderwunsch zum Einsatz.
Durch genauere Erforschung der einzelnen Bestandteile und dank seiner entzündungshemmenden Funktionen verbreiterte sich das Wirkspektrum des „Schwarzen Golds“ auf Krankheiten wie beispielsweise Gelenkerkrankungen oder Muskelverletzungen.
Auf 252 Hormone und Inhaltsstoffe bringt es das Aiblinger Moor, darunter vor allem die Huminsäuren. Sie entgiften den Körper und stärken das Immunsystem. Ideal für Rheumapatienten, so Egger. Er habe Gäste, die alljährlich für drei Wochen nach Bad Aibling kommen. Zehn bis fünfzehn Moorbäder reichen, um ein knappes Jahr schmerzfrei durchzustehen.
Grund hierfür sei die Aktivierung der Nebennierenrinde durch das Moorbad und die daraus resultierende Ausschüttung des körpereigenen Hormons Cortisol. Das wiederum ersetze das pharmazeutische Kortison komplett.
Zum Abschluss besuchen wir noch einmal die Panradls, die den Torf aus dem Auer Moos auch in Mooskissen verpacken, zur punktuellen häuslichen Schmerzbehandlung.
Sechseinhalb Hektar umfasst ihr ausgewiesenes Areal. Bis 2050, schätzt der Seniorchef, sei sicher genug an Heilmoor zum Abtragen vorhanden. Dann steuert wohl der nächste Max die Greifarmschaufel, vielleicht auch noch der übernächste. Getreu der Familientradition als versierte Baggervirtuosen, als Schürfer des Schwarzen Golds.