Beifuß und Salbei, Johanniskraut, Walnuss und Wacholderbeeren. Wir wanderten mit einem Walderlebnisführer zu Pflanzen-Power und Kräuter-Kraft – und zu einer ganz besonderen Selbsterfahrung: Räuchern in der Rhön
Kräuter räuchern in der Rhön
Irgendwann ist dann Ruhe. Irgendwann höre ich nichts mehr. Nur noch die Natur. Die Stille. Mich selbst. Vielleicht sind es fünf Minuten nach Beginn der Zeremonie, vielleicht eine Viertelstunde, als das Zeitempfinden längst zerronnen ist und ich gefühlt in einen ganz eigenen Aggregatzustand transformiere. Fest verwurzelt mit der Wiese unter mir, dem Gras, nach meinem Gespür der Erde ganz nah. Gleichzeitig in schwebender Leichtigkeit, entrückt, in Gedanken irgendwo über dem Irdischen in fernen Sphären und doch stimmig und mittig eingependelt in einer inneren Balance.
Im Rauch der Sinne
Der Geruch dieses so eigenen und sehr wunderbaren Stadiums ändert sich dabei immer wieder. Mal riecht es nach Salbei. Mal nach Beifuß. Mal nach Walnuss. Je nachdem, was in Christophs Schale gerade vor sich hin dampft und welche Pflanze mich gerade benebelt beim Räuchern in der Rhön.
Das unterfränkische Burkardroth liegt im sanften Hügelland im Nordwesten von Bad Kissingen. Seit gut einem Jahr ist der Ort das neue Zuhause von Christoph Hägele. Der gebürtige Niederbayer kam gut herum im Freistaat: Lange lebte er im Münchner Umland, später in Würzburg, dann zog er mit seiner Frau und den beiden kleinen Kindern hierher, in die direkte Nachbarschaft zu seinen Schwiegereltern.
An diesem sonnigen Nachmittag holen wir ihn an seinem Haus ab. Während wir langsam den Ort verlassen und auf einem kleinen Feldweg in Richtung Waldrand spazieren, erzählt er über seine Verbindung zur Natur. Wie er als Kind mit seinen Eltern schon immer draußen war im Grünen, wie er mit den Jahren einen immer intensiveren Zugang fand und sich immer mehr beschäftigte mit Themen wie Naturhandwerk und Pflanzen, aber auch mit Spiritualität, Meditation und Achtsamkeit.
Der Brennnessel-Trick
Um sich Wissen über Pflanzen und Kräuter anzueignen, war Christoph lange Jahre autodidaktisch unterwegs. Einiges davon gibt er an diesem Tag an uns weiter, so wie gleich zu Beginn unserer kleinen Wanderung, als er uns an einer Wiese am rechten Wegesrand einen für viele Ausflüge mit Kindern sehr praktischen und nützlichen Tipp gibt: Wie man garantiert schmerzfrei eine Brennnessel anfasst.
„Die Brennhaare wachsen am Stil meist nach oben“, sagt er und demonstriert seine These am gepflückten Objekt, „wenn ich sie unten nehme und von dort nach oben streiche, brechen sie ab und ich steche mich nicht.“ Danach sei die Pflanze mit ihren Samen schmerzfrei zu verwenden, im Tee, in der Suppe, im Müsli. Brennnessel entschlackt und schwemmt die Giftstoffe raus.
2020, erzählt Christoph, machte er eine Ausbildung zum Walderlebnisführer. Um einzutauchen in die Welt des Waldbadens, um Menschen auf seinen Führungen die heilende und wohltuende Kraft der Bäume und ihrer Botenstoffe spüren zu lassen. Aber auch um noch mehr über die Wirkung der einzelnen Pflanzen im Jahreszyklus der Natur zu erfahren.
Als uns auf unserem Weg der Schatten des Waldes allmählich einhüllt und die Sonne nur noch sporadisch durch die Wipfel blinzelt, spricht er viel vom Energiezentrum der Bäume und Gewächse. Wann sind sie am stärksten. Und an welchen Stellen.
Kraftorte der Pflanzen
„Im Frühjahr setzt der Baum alles daran, die Blätter auszutreiben, also sitzt dort die gesamte Power. Später geht die Energie in die Blüten über, dann sind sie am heilkräftigsten.“ Im Herbst, wenn es mit der schönen Pracht allmählich vorbei ist, die Tage kürzer werden und die Sonne schwächer, dann zieht sich die Pflanze allmählich zurück, sagt Christoph. „Dann wandert die ganze Kraft nach unten in die Wurzeln.“
All das ist wichtig, um zu wissen, wann welche Pflanze und welches Teil von ihr am effizientesten ist, wann ihre Wirkung am besten zur Entfaltung kommt. Ob im Tee, im Müsli, als Tinktur oder Salbe.
Die Kunst des Räucherns
Mit dem Räuchern beschäftigt sich Christoph seit vielen Jahren und die Menschheit seit ihrem Anbeginn. Quer durch alle Kulturen warfen die Menschen Kräuter und Pflanzen, Hölzer und Harze ins Feuer oder kokelten sie an und ließen sie qualmen, um nicht nur verschiedene Gerüche wahrzunehmen, sondern sich auch in unterschiedliche Stimmungen zu bringen. Um runterzukommen. Oder um high zu werden.
Man nehme nur den weißen Stechapfel aus der Gattung der Nachtschattengewächse, dem man einst eine heilende Wirkung gegen Asthma nachsagte, wenn man den Dampf der rauchenden Blätter inhalierte oder sie gleich zu einer Zigarette wickelte, was aber meist nur psychedelische und halluzinogene Bewusstseinszustände bewirkte. Weshalb man davon, wie Christoph sagt, in jedem Fall die Finger lassen sollte. Sonst dreht man völlig ab.
Das getrocknete Krautgemisch, das er nun auspackt, als wir spätnachmittags auf einer Lichtung für eine finale wärmende halbe Stunde noch einen Platz im Licht der tief stehenden Sonne sichern, hat eine ganz andere Wirkung. Mehr zum Entspannen, zur Meditation, um sich zu verbinden mit der Natur.
Duftendes für die Harmonie
Vor Beginn des Räucherns erzählt Christoph noch von der Signaturenlehre, nach der Aussehen, Form und Charakter einer Pflanze Rückschlüsse auf die Wirkung ihrer Heilkraft geben. Große und ausladende Pflanzen wie die schon namentlich kräftige Herkulesstaude stärken demnach das Selbstbewusstsein.
Wohlriechende Gewächse verbreiten Harmonie und Geborgenheit: Frauenmantel etwa, Lavendel oder Labkraut. Dornenpflanzen beschützen. Tomaten helfen bei Beschwerden der Prostata. Und die Walnuss ist gut fürs Hirn, sie sieht ja auch so aus.
Dass sich ganz allgemein im Duft die Seele der Pflanze öffne, sagt Christoph. Dann entzündet er seine Räucherkohle. Während wir tief ein- und ausatmend allmählich in unsere friedliche Trance versinken, umschreitet er uns mit seiner Schale, in der mal Salbei vor sich hin qualmt, mal Beifuß, Johanniskraut und Walnusspfeffer, schließlich die Blüten von Wacholderbeeren.
Zwanzig tiefenentspannte Minuten halten wir inne in unserer Traumwelt, sorgenfrei und schwerelos, bis uns Christoph allmählich behutsam wieder bei einer Tasse Kräutertee zurückholt in die reale Welt.
Eine sehr spezielle Selbsterfahrung, für man natürlich bereit sein muss, denn so wie die Seele der Pflanze muss sich auch der Mensch für die Pflanze öffnen, für das Ritual des Räucherns. Wer sich verschließt, im Glauben, das sei alles g‘spinnerter Mumpitz, der verpasst die wohltuende Wirkung. Für den ist das nur heiße Luft. Viel Rauch um nichts. Man muss auch nichts davon halten. Schadet aber auch nicht, sich darauf einlassen, es einfach mal zu probieren.
In der Abenddämmerung wandern wir auf unserem Rundweg zurück nach Burkardroth, sammeln noch einige Kräuter ein und verabschieden uns in der klaren Luft der Rhön gemächlich von dieser bezaubernden Natur und von einer ganz besonderen Erfahrung. Vom Rauch der Sinne.