Bei der nächsten Übung schlagen wir Wurzeln, wie die Bäume um uns herum
Auf Tauchgang zur eigenen Mitte

Ausklinken aus der Zivilisation, abschalten vom Alltag. Mit Waldbademeister Thomas Müller völlig entschleunigt unterwegs zu krummen Bäumen und rauen Rinden, gerahmten Bildern und vergessenen Erinnerungen. Ein Selbstversuch mit Meditation und Zimbelklang

Lesezeit: 15 Minuten

Waldbaden im Bayerischen Wald

Durch die Bäume und irgendwo aus dem Nichts klingt wieder die Zimbel. Zwei winzige Messingbecken an den Enden einer Schnur, die Thomas Müller immer sanft aneinanderschlägt, wenn er an diesem Tag eine der vielen Übungen beginnt und sie beendet. Diese Zimbel gibt an diesem Tag unseren Takt vor. Das Tempo der Entschleunigung.

Waldbademeister Thomas Müller im Bayerischen Wald

Keep it Zimbel

Zwölf meditierende Minuten lang hatte diese innere Einkehr gedauert, bei der man sich einen Platz im Wald suchen und auf einen eingerahmten Flecken Erde schauen sollte, einfach so. Zwölf Minuten, die sich zu ihrem Ende beim Klang der Zimbel anfühlen mochten wie das Doppelte. Wie eine Stunde? Womöglich noch länger?

Die Empfindung von Zeit und Raum verschiebt sich an diesem Tag im Bayerischen Wald, es verändern sich gewohnte Wahrnehmungen. Wir sind auf einem Tauchgang hinein ins eigene Ich, beim Waldbadetag mit Thomas Müller.

In Japan gilt das Waldbaden („Shinrin Yoku“) als anerkannte Heilkunst

Waldbaden? Natürlich, davon hört man immer wieder. Schwer im Kommen, ziemlich angesagt. Schwappte in den letzten Jahren aus Japan zu uns herüber. Dort gilt „Shinrin Yoku“, das „Eintauchen in die Atmosphäre des Waldes“, als anerkannte Heilkunst.

Zu lesen war vorab auch in zahlreichen medizinischen Studien von den positiven Effekten. Von der Stärkung des Immunsystems durch die Terpene, die Duft- und Botenstoffe der Bäume. Von der Produktion von Anti-Stress-Hormonen und Anti-Krebs-Zellen, von der Stimulierung der Produktion des Herzhormons DHEA, das den Alterungsprozess positiv beeinflusst. Aber fällt man beim Waldbaden wirklich in den Jungbrunnen? Bringt das wirklich was? Wie fühlt es sich an?

Im Gänsemarsch geht es tiefer in den Wald hinein
Pilze im Spiegelbild: Wer achtsam unterwegs ist, sieht mehr

Höchste Zeit für einen ausgiebigen Selbstversuch

Verabredet sind wir mit Thomas Müller, unserem Waldbademeister, an die­sem strahlenden Herbsttag um 9 in der Früh am Großen Arbersee. Die Anreise verläuft schleppend. Stau auf der A92 zwischen Plattling-Nord und dem Kreuz Deggendorf, musste ja so sein. Natürlich ein langsamer Laster vor uns auf der B11, und, mal wieder typisch, die endlos lange geschlossene Bahnschranke in Teisnach.

Ankunft kurz vor halb zehn am Parkplatz. Hektisch springen wir aus dem Auto, entdecken Thomas Müller jenseits der Straße am Waldrand und entschuldigen uns dafür, dass er so lange warten musste.

Doch Müller, Hände auf der Brust gefaltet und Zimbel um den Hals, lächelt nur sanft. In sich ruhend wie die Personifikation eines niederbayerischen Buddha sagt er: „Jedes Warten birgt auch eine Chance.“ Dann zeigt er auf einen wunderschönen Schwammerl, den er in der halben Stunde der War­terei neben einer Baumwurzel ent­deckte und den er ohne unsere Verspätung vermutlich nie gefunden hätte. Schon in diesem Moment wird klar, es wird ein ganz spezieller Tag. Zeit spielt ab jetzt keine Rolle mehr. Und auch sonst nicht mehr viel.

Ein Rundgang um den Großen Arbersee ist zu jeder Jahreszeit möglich

Zum „Einladen“ ans Ufer des Großen Arbersees

Am Seeufer lädt uns Thomas zur ersten Übung ein. Das „Einladen“, sagt er dabei, sei beim Waldbaden enorm wichtig. Niemand werde gezwungen, alles sei freiwillig.

Zum ersten Mal erschallt die Zimbel, wir schauen weit hinauf in den blauen Himmel und senken den Kopf ganz langsam. Der Blick streift über die von den Bäumen bunt gefärbte Flanke des Großen Arbers allmählich auf den See vor uns, dann bis nach ganz unten auf unsere Füße. Und dann wieder hinauf nach oben, von ganz nah bis nah an die Unendlichkeit.

Es ist ein erstes wirkliches Ankommen, am Ort, im Gefühl und bei sich selbst. Die große Hochzeitsgesellschaft, die wenige Meter weiter vor der Gaststätte „Arberseehaus“ aufgeregt rund um das Brautpaar in einem Cabrio-Oldtimer herumwabert und ein kollektives Grundschnattern von sich gibt, das in der Tonalität dem der Enten vor uns im See ähnelt, rückt allmählich in den Hintergrund.

Es gelingt, langsam den Lautstärke­regler der externen Geräuschkulisse runterzudrehen. Die Außenwelt ist im Fade-out-Modus. Wir lassen uns ein auf die Stille und die Langsamkeit.

Einige Meter gehen wir auf dem Wanderweg am Ufer entlang, hintereinander im Gänsemarsch, mit Kathrin und Tanja, unseren Begleiterinnen an diesem Tag. Berühren Zweige und Zapfen, Blätter und Nadeln. Ein erstes Kennenlernen mit dem Wald.

Der Blick geht weit hinauf in den Himmel
Riecher für Entspannung? Vielleicht. Sicher aber hilft das dem Immunsystem auf die Sprünge

Eine Vita mit vielen Kurven und Kehren

Später wird Thomas erzählen, dass sich Menschen mit einem linearen Lebensweg eher mit geraden Bäumen anfreunden würden. Andere, bei denen nicht alles glatt laufe oder lief, ziehe es hingegen zu krumm gewachsenen Stämmen oder Bäumen mit rauer Rinde.

So wie bei ihm. Das Leben von Thomas Müller nahm viele Wendungen und Windungen. Pfarrer wollte er eigentlich werden, stattdessen war er Versicherungskaufmann und zwölf Jahre Bürgermeister von Bayerisch Eisenstein, später leitete er eine Buchhandlung, heute macht er eine Bäckerlehre. Und irgendwann dazwischen kam dann der Burn-out.

„Man muss den Ballast abwerfen, die Sorgen und Nöte. Man muss lernen, sich wieder zu spüren“

Mehr als zwei Jahrzehnte leitete er als Waldführer ehrenamtlich Touren im Nationalpark Bayerischer Wald. Meist ging es dabei darum, ein Ziel zu erreichen, eilig von A nach B zu hasten, ob um den See oder auf den Berg.

Als er vor vier Jahren begann, sich mit Waldbaden zu beschäftigen, und er bei der Deutschen Akademie für Waldbaden seine Trainerausbildung absolvierte, erkannte er, dass die Zielsetzung eine andere wurde. Dass man sich nicht hektisch einem anderen Ort nähern sollte. Sondern ganz behutsam nur sich selbst. „Man muss loslassen“, sagt Thomas, als wir nun hineingehen in den Wald, „den Ballast abwerfen, die Sorgen und Nöte. Man muss lernen, sich wieder zu spüren.“

Bei der nächsten Übung schlagen wir Wurzeln, wie die Bäume um uns herum

Wurzeln schlagen: Zeit fürs Bodyscanning

Bei der nächsten Übung, zu der Thomas uns einlädt, sollen unsere Füße mit dem Boden verwachsen, Wurzeln schlagen wie die Bäume. Und wir sollen uns mit den Händen nach oben strecken, in Richtung Himmel. So breitet sich ein tiefes Ruhegefühl aus.

So wie auch danach, als uns Thomas losschickt, um einen für uns ganz besonderen Baum zu finden. Um in uns hineinzuhören, warum gerade dieser Baum so eigen ist für uns, um sich dafür zu öffnen und um es später in der Gruppe zu erzählen.

Manch einer bleibt bei dem umgestürzten, moosbewachsenen Stamm hängen, der wohl schon seit Jahren auf dem Waldboden liegt, eine andere bei der großen Eiche, deren Blätter oben aus dem Schatten ins Sonnenlicht ragen.

Warum ausgerechnet die Mini-Tanne?

Ich lande, ohne zu wissen warum, bei einem kleinen versteckten Tannenbaum, der allmählich Erinnerungen an frühere Weihnachten hervorruft und schließlich an jenen denkwürdigen Dreikönigstag: Als man als fünfjähriger Bub die entzündete Wunderkerze nicht auf, sondern neben den Zweig hängte und im Nu der staubtrockene Christbaum in hellen Flammen stand.

Beherzt sprang der fluchende Vater damals in die brennende Nordmanntanne, schleppte sie zum Löschen in die Badewanne, bevor er von Ruß geschwärzt zurückkehrte und seinem vor Panik schreienden Hundskrüppel gleich so eine handfeste Watschn gab, dass schnell wieder Ruhe war. Man kramt einige alte, längst irgendwo weit hinten abgelegte Erinnerungen hervor in diesen Stunden.

Menschen mit geradliniger Vita zieht es eher zu gerade gewachsenen als zu schiefen Bäumen
Unterwegs zu kleinen Waldbächlein, krummen Bäumen und viel Moos
„Wenn man Dinge mit einem Rahmen umgibt, bekommen sie auf einmal eine ganz andere Bedeutung
„Wenn man Dinge mit einem Rahmen umgibt, bekommen sie auf einmal eine ganz andere Bedeutung

Zwölf Minuten für den Meditations-Quadratmeter

Und ja, mit einem Baum zu sprechen, das mag sicher auch recht gspinnert klingen. Wenn man es erlebt, wenn man sich bewusst darauf einlässt, tut das alles aber ziemlich gut.

Es tut auch überraschend gut, bei der nächsten Übung vier Stöcke einzusammeln, alle etwa einen Meter lang, und sich damit, wo immer es gefällt, ein Stück Boden einzugrenzen. Für die besagten zwölf Minuten der Meditation, um sich beim Betrachten des eingerahmten Quadratmeters zeitlos zu verlieren.

Bei seinen Kursen, sagt Thomas später, fordere er die Teilnehmer nach dieser Übung zum Test auf, alles aufzuräumen und den Inhalt des Bildes zu ordnen: die Blätter in ein Eck, die Zweige ins andere, dort die Tannenzapfen, hier das Moos. Die Menschen sträuben sich oft dagegen, sagt er. Weil sie schon eine Beziehung aufgebaut hätten und schon eins seien mit ihrem Kunstwerk.

Thomas spricht noch einige Einladungen aus, am Ende verteilt er einen kleinen Holzrahmen. Ein letztes Mal streifen wir diesmal als Sammler durch den Wald und befüllen bei einer abschließenden Teezeremonie den Rahmen mit unseren Fundsachen aus der Natur.

Fichtennadeltee aus hölzernen Kuksa-Tassen rundet das Waldbade-Erlebnis ab

So nah und doch so weit weg

Gemächlich spazieren wir wieder heraus aus dem Wald und staunen, dass wir die ganzen Stunden höchstens 100 Meter entfernt waren von der viel befahrenen Bundesstraße, vom Parkplatz, der inzwischen genauso heillos überfüllt ist wie die Sonnenterrasse des „Arberhaus“. So nah waren wir der altbekannten Zivilisation. Und doch bei unserem Abtauchen in die Achtsamkeit so weit weg. Ein beeindruckender Wald­badetag geht zu Ende.

Am nächsten Morgen ist die Routine schnell wieder da. Eine Flut an eingegangenen Mails wartet im Home Office, dazu ein Online-Meeting, Terminabsprachen, Telefonate. Abends in den Nachrichten berichtet die Sprecherin von Krieg und Krisen. Es herrscht Sehnsucht nach dem Wald. Nach dem kleinen Tannenbaum. Nach meinem Quadratmeter Boden. Und im Kopf erklingt die Zimbel.

Die Zimbel stammt aus dem Buddhismus und wurde ursprünglich nur zu Gebeten geschlagen
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