Die Fremden feiern an Rothenburg ob der Tauber den Charme der Vergangenheit. Die Einheimischen hingegen sorgen mit neuen Ideen dafür, dass ihr mittelalterliches Städtchen lebendig bleibt. Wir haben uns umgesehen
Rothenburg ob der Tauber
Angesichts der Hausfassaden, die den Marktplatz von Rothenburg umgeben, kann es geschehen, dass man sich für Augenblicke in einem Film wähnt. Fragt sich nur, in welchem? Spielt er im späten Mittelalter, als Rothenburg seine größte Blüte erreicht, in der Renaissance, als das Rathaus erbaut wird, oder in Spitzwegs Biedermeier?
Vom Burggarten aus hat man den besten Blick auf die Stadt. Das rötliche Abendlicht fällt auf einen Teil der umlaufenden Stadtmauer mit ihren 42 Türmen. Nirgends sonst in Deutschland blieb eine solche Kostbarkeit mittelalterlicher Stadtarchitektur so vollkommen erhalten.
Fachwerkgiebel ragen über die Mauer, an die sich ein Weinberg schmiegt. Unwillkürlich denkt man an die Szenerie in einer Spielzeugeisenbahn-Welt. Doch dies ist keine Filmkulisse, sondern eine Kleinstadt, in der etwas über 11.300 „normale“ Menschen und drei Storchenfamilien leben.
Angst vor Bränden
Plötzlich taucht eine Figur in weiter, schwarzer Pelerine, mit Dreispitz, Horn, Hellebarde und Laterne vor uns auf. Es ist Hans Georg Baumgartner, verkleidet als Nachtwächter. Seine Gefolgschaft unterhält er mit Anekdoten aus der Stadtgeschichte. „Niemals hätten die 100.000 Liter im Löschwasserreservoir ausgereicht, wenn ein Feuer ausgebrochen wäre“, verkündet er und schüttelt seine Silberlocken.
Es folgt eine theatralische Pause, dann setzt er nach: „Nachtwächter haben derlei Tragödien verhindert. Außerdem gab es harte Strafen für Trunkenbolde, in einem riesigen Weinfass ohne Boden mussten sie über den Marktplatz marschieren. Vor Saufbrüdern hatten die Bürger Angst, denn sie konnten über dem offenen Feuer einschlafen und einen Brand verursachen.“
Nachtwächter als Chefdiplomat
Hans Georg Baumgartner ist der berühmteste Nachtwächter Deutschlands, von „Merian“ bis hin zu Rick Steves‘ amerikanischem TV-Channel „Europe“ wird er für seine Performance gefeiert. Rothenburger nennen ihn scherzhaft ihren Chefdiplomaten. In der „Höll“, einer ehemaligen Trinkstube, macht er Pause zwischen zwei Führungen, seine alte Armbanduhr neben dem Bierglas stets im Blick.
„Als Kind habe ich mich unter dem Tisch versteckt, wenn Besuch kam“, gibt er zu, „als Nachtwächter schlüpfe ich heute in eine Rolle, da kann ich nicht schüchtern sein.“ Tagsüber trifft er zu Hause wenig Menschen, dafür vier Schafe, drei Zwergziegen, fünf Hühner und acht Katzen. Doch jetzt sammelt er eilig Hellebarde und Laterne ein, auf dem Marktplatz wartet schon eine neue Gruppe auf seine Vorstellung.
Trinkfester Bürgermeister
Im zwölften Jahr des Dreißigjährigen Krieges, so die Geschichte vom „Meistertrunk“, wird Rothenburg auf kuriose Weise vor der Vernichtung bewahrt. Immer an Pfingsten führt eine Laienbühne das Drama auf. Günter Wasilewski, Spitzname Otto, ist seit vierzig Jahren dabei. Mit Lederschürze, weißem Vollbart, Bauch und stolzer Haltung gibt er den Kellermeister, im echten Leben arbeitet er als Rathausangestellter.
Der "Meistertrunk" bewahrte die Stadt vor der Vernichtung
Worum geht es da? „Tilly, Feldherr der Kaiserlichen Armee, steht als Eroberer vor dem Rathaus und will brandschatzen. Vielleicht lässt der Katholik uns leben, wenn wir ihn mit einem ordentlichen Humpen Wein begrüßen?“, schildert er die Szene, wie sie heute gespielt wird. „Dann komm‘ ich mit dem Riesenkrug. Der Tilly ist schlau und trinkt nichts. Er will uns reinlegen, einer der Herren soll den Wein exen. Über drei Liter! Dann würde er abziehen.“
Der Bürgermeister meldet sich und schluckt und schluckt und schluckt. Er rettet das Städtchen. Zur Feier des unfreiwilligen Rausches öffnen sich im Giebel des Rathauses zu jeder Stunde zwei Fenster: In einem zeigt sich der staunende Tilly, im anderen der trinkfeste Bürgermeister.
Armut als Rettung
Otto verwahrt den Schlüssel zum Aufzug auf den Rathausturm. Ehrengäste dürfen fahren, alle anderen schnaufen 220 Stufen hinauf. Doch die Mühe lohnt sich: Der Blick über die Schindeldächer, Türme und Fassaden zeigt, wie original das Städtchen erhalten ist.
Das ist nicht nur dem Meistertrunk zu verdanken, sondern auch der Armut. Armut deshalb, weil es sich einfach niemand leisten konnte, die Stadt durch schlechte Renovierungen zu verschandeln. Als nach den Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg Geld für den Wiederaufbau floss, gab es schon Denkmalschutz.
Weltoffenheit brachten die ersten Fremden in das Städtchen, angezogen durch Gemälde und frühe Reiseberichte. Heute werden mehr Menschen durch Instagram, Filme und Computerspiele angesprochen. Bis zum Ausbruch von Corona kamen jedes Jahr über zwei Millionen Besucher. Reisende aus aller Welt wollen in der Vergangenheit schwelgen, aber ohne die ungemütlichen Nachteile des damaligen Lebens.
Internationales Flair
Was die Hotels von „Mittermeiers Hospitality“ bieten, geht über den zeitgenössischen Standard weit hinaus. „Ich bin zwischen Fritteuse und Getränkebuffet aufgewachsen“, erklärt Chef Christian Mittermeier sein Erbgut als Wirt.
„Hotel und Restaurant meiner Kindheit habe ich auf ein Niveau gehoben, das mir gefällt und wie ich es international kennengelernt habe.“ Zum Abschied gibt er uns noch Genießertipps mit auf den Weg: Weinproben könne man in den „Genießen ob der Tauber“-Betrieben machen, in der „Schranne“ und der „Höll“ gebe es die besten fränkischen Hausmacherwürste.
Kult-Bar "Mucho Amor"
Zu den absoluten Glücksfällen gehört, dass ein international gefeierter Bartender ausgerechnet in Rothenburg seine Drinks kreiert. Simon Kistenfeger ist Veganer und Boxer, trägt roten Vollbart, viele Tattoos und einen Undercut. Er verkörpert alles, was in Großstädten weltweit hip ist. Doch den „Travelling Bartender“ zog es nach letzten Stopps in Kolumbien und Oslo zurück in seine Heimatstadt.
Seine Bar „Mucho Amor“ ist Kult. „Rothenburg ist durch die vielen Fremden viel interessanter als irgendeine andere Kleinstadt“, sagt er. „Und im Taubertal und im Garten meiner Mutter wächst alles, was ich für meine Drinks brauche. Jetzt im Sommer zum Beispiel koche ich Lavendelsirup.“
Wer nach buckeligem Pflaster und schiefem Fachwerk an einer Überdosis Bilderbuch leidet, erholt sich in Nadine Schäffs „Café Lebenslust“ bei ihrem Signature-Drink aus Hibiskus, Rosenblüte, Minze und Sekt. Die Einrichtung oszilliert zwischen Shabby Chic und Fifties und könnte genauso in einem Berliner Club stehen. Live-Bands, Lesungen und Ausstellungen plant Nadine nach Lust und Laune.
Morgensterne als Souvenir
Nach dem kunstsinnigen Luftholen geht es zurück ins tiefste Mittelalter: Morgensterne kaufen bei Johannes Wittmann in der Waffenkammer ... oder gar eine ganze Ritterrüstung. „Ich habe von meiner Tante den Laden und das Haus mit Baujahr 1371 geerbt“, erzählt der ehemalige Röntgenassistent, „Amerikaner sind meine Hauptkunden. Sie sehen die alten Schwerter im Kriminalmuseum gegenüber und kommen dann zu mir, um die Nachbauten anzufassen.“
Heiße Schneeballen
Im Mittelalter wurde der Schneeball erfunden, ein schlichtes Mürbeteiggebäck in der Form –und auch Konsistenz, wenn man Pech hat … – von Morgensternen. Mönche haben die nahrhaften Kugeln gebacken und Rum in den Teig geknetet, damit beim Fasten keine schlechte Laune aufkam.
Die Rothenburger Spezialität isst man am besten noch warm
Jeder Rothenburger Konditor türmt die Spezialität im Schaufenster auf, einer von ihnen ist Bäckermeister Friedel. „Wir unterscheiden uns von industriellen Anbietern durch unsere guten Zutaten, frische Eier, hochwertiges Fett zum Ausbacken etwa“, sagt er und siebt Puderzucker auf eine Ladung Kugeln.
Der Duft des frischen Fettgebäcks dringt aus der Backstube bis auf die Straße, den Schneeball in der Papiertüte muss man schnell „kaputtmachen“ und die Trümmer noch warm essen. Von wegen Dauergebäck!
Oh Käthe, oh Tannenbaum!
Bei Käthe Wohlfahrt ist die Zeit für immer an Heiligabend stehen geblieben. Unbedingt sollte man sich durch die Bescherung in ihrem Weihnachtskaufhaus an der Herrngasse schlängeln und sich ins Museum in den ersten Stock begeben. Dort erfährt man alles über die Entwicklung des meist bescheidenen und kunsthandwerklich hergestellten Christbaumschmucks.
Wem nach den profanen Nebenwirkungen des Christentums nach echter Kunst zumute ist, spaziert zur Jakobskirche, in der Tilman Riemenschneiders Heiligblutaltar steht. Der begnadete Künstler, der „Holz sprechen lassen konnte“, schuf mit dem Abendmahl eines der eindrucksvollsten Werke gotischer Schnitzkunst.
Bildergalerie
Mehr Impressionen aus Rothenburg ob der Tauber
Spitzweg oder Selfie
Ohne Selfie verlässt niemand die Stadt. Hotspot ist das Plönlein, eine der schönsten mittelalterlichen Stadtszenerien Deutschlands. Der kleine dreieckige Platz mit Brunnen diente als Vorlage für das Heimatdorf im Disney-Klassiker „Pinocchio“.
Wo Carl Spitzweg einen müden Nachtwächter malte, zusammengesunken auf einer Mauer, posieren freudig aufgekratzt vier Chinesinnen vor Turm, Toren und dem spitzgiebeligen Hexenhäuschen. Die Fischhändler, die früher hier ihre Ware stapelten, hätten Augen gemacht.