In Obernburg steht eine Stadt auf ihrer Vorgängerstadt. Zwei Schichten Stadt übereinander. Das ist in dieser Form einzigartig. „Und überall guckt ein Römer raus“, sagt der örtliche Museumsdirektor. Eine Ortsbesichtigung in Franken. Text: Jochen Müssig
Obernburg am Main: Auf den Spuren der Römer in Franken
Die Kreuzung von Via Principalis und Via Praetoria überquerte der Präfekt Lucius Petronius Florentinus in standesgemäßer Tunica wohl so manches Mal. Seit 192 nach Christus war er der Befehlshaber über das Obernburger Kohortenkastell mit seinen 500 Soldaten. Außerhalb der Wehrmauern siedelten tausend Zivilisten. Dort herrschte ein buntes Treiben: Garküchen und Herbergen, Handwerk und Handel sowie Dienstleistungen von Friseur bis Bordell.
1.831 Jahre später spaziert Dietmar Fieger von der Römerstraße in die Badgasse. Er trägt Anzug und Krawatte und ist der Erste Bürgermeister der Stadt mit 8.700 Einwohnern. „Hier kann man eine Zeitreise in die antike Welt machen“, sagt Fieger, „denn die ehemaligen Via Principalis und Via Praetoria liegen exakt unter Römerstraße und Badgasse. So wie das ganze römische Kastell des Lucius Petronius Florentinus direkt unter der Altstadt Obernburgs liegt.“
Eine Stadt auf der Stadt? In zwei Schichten sozusagen? Tatsächlich befindet sich der heutige Stadtkern genau auf dem Kastell, das ab 107 nach Christus gebaut wurde. „Das ergaben zahlreiche Grabungen der letzten 120 Jahre, die jeweils ein Fenster in die römische Vergangenheit öffneten“, erklärt uns Eric Erfurth, der Leiter des Römermuseums in Obernburg. „Außer dem Badehaus haben wir bis heute alle wichtigen Gebäude der Anlage gefunden.“
Schätze unter Schlamm
Erodierter Schwemmlehm von einem Berghang oberhalb der Stadt verschüttete das Kastell. Er begrub es zwischen 400 und 800 nach Christus komplett unter sich, wie es zuvor die Lava mit Pompeji gemacht hatte. Auf der 60 bis 200 Zentimeter dicken Lehmschicht entstand im Mittelalter ein neues prosperierendes Städtchen.
„Deshalb schaut bei uns überall ein Römer raus“
„Deshalb schaut bei uns überall ein Römer raus“, sagt Eric Erfurth anschaulich. „Man muss nur in irgendeinen Keller gehen …“ Bei fast jedem Eingriff in den Boden kommt tatsächlich Römisches hervor.
Bürgermeister Fieger fühlt sich „irgendwie auch als Bürgermeister des antiken römischen Dorfs“ und schlüpft manchmal „in die Rolle des Benefiziariers Gaius Ianuarius Victorinus, der 223 nach Christus seinen Dienst bei uns tat“. Dann wird aus dem fränkischen Bürgermeister ein römischer Stadtführer.
Der Status als Welterbestätte hat Folgen: Aufgrund der Auflagen von Denkmalschutz und UNESCO kommt es nicht mehr zu Forschungsgrabungen, wie es sie seit dem 19. Jahrhundert gab. Viele Haus- und Grundstücksbesitzer in der Obernburger Innenstadt verzichten auf Baumaßnahmen, da sie höchstwahrscheinlich auf archäologisch bedeutsame Schichten treffen würden, was zu zeit- und kostenintensiven Rettungsgrabungen führen würde.
„Da herrschen bei unseren Bürgern gemischte Gefühle“, sagt der Bürgermeister. „Wir haben Begeisterte für unsere römische Historie. Und wir haben Leute, die beim Bauen höhere Kosten fürchten.“ Das Gefundene gehört (in Bayern, anders als im Rest von Deutschland) zwar mindestens zur Hälfte dem Grundstücksbesitzer, allerdings „sind viele Fundstücke vergleichsweise wenig wert“.
Römische Münzen hat man inzwischen mehr als genug ausgegraben. „Wenn man dokumentieren könnte, in welcher Schicht sich eine Münze befindet, wäre das ein Indiz für den Zeithorizont der Schicht“, erklärt der Museumsleiter.
Einzige Benefiziarier-Station der Welt
„Mein Onkel fiel einmal in einen römischen Brunnen. Und vor zwei Jahren hat mir ein Maurer einen komplett erhaltenen römischen Krug ins Museum gebracht, den er vor 50 Jahren als Lehrbub auf der Suche nach römischen Schätzen ausgegraben hatte ...“ Bernd Steidl von der Archäologischen Staatssammlung in München, sozusagen „der oberste Römer in Bayern“, so Eric Erfurth, war verantwortlich für die Ausgrabung der Benefiziarier-Station.
Steidl erinnert sich: „Als ich ankam, sah ich, wie gerade ein römischer Altar mit dem Bagger ausgehoben werden sollte! Mit einem Bagger! Am Anfang war dort einfach nicht klar, welche Bedeutung diese Ausgrabungen haben würden.“
Der Benefiziarier-Posten, eine Art Polizeistation, in der Unteroffiziere aus Mainz und Straßburg Dienst schoben, befand sich im Dorf gut 100 Meter südlich des Kastells, wo der Repräsentant des Kaisers die Geschicke führte. Sie ist bis heute die einzige vollständig erhaltene Station dieser Art im ganzen einstigen römischen Imperium.
Und dann noch die Gigantensäule!
2015 wurde bei Baumaßnahmen eine vier Meter hohe Jupiter-Gigantensäule entdeckt. Ein Sensationsfund, weil fast die ganze Säule erhalten war und nicht nur Teile davon.
„Das war unglaublich spannend“, erinnert sich Bauherrin Alexandra Duesmann, „aber ich wusste nicht, was da auf uns zukommt.“ Die Archäologen benötigten zwei Monate für ihre Arbeit. „Wir als Eigentümer verkauften die Säule an die Archäologische Staatssammlung in München, wo sie demnächst zu sehen sein wird“, sagt Duesmann. „Weder ich als Privatperson noch unser Obernburger Römermuseum konnten die strengen Auflagen erfüllen, um die Säule behalten zu können.“
Damit der Sensationsfund nicht in Vergessenheit gerät, ließ Duesmann in der Römerstraße 3, in Sichtweite des Fundorts, eine Replik aufstellen, „damit die Attraktion ein Stück weit für die Römerstadt Obernburg erhalten bleibt.“
Wo sieht man was?
Bislang wurden Funde aus den Jahren 107 bis 400 nach Christus in Obernburg entdeckt. Spektakulär und für die Wissenschaft am bedeutendsten war die Ausgrabung der Benefiziarier-Station. Originale sind im Straßenbild zu sehen, darunter die Zinnensteine der Kastellmauer und der Weihestein von Lucius Petronius Florentinus.
Andere Funde wie zum Beispiel ein Apollo-Relief, Skulpturen und Grabsteine sind im kleinen städtischen Römermuseum ausgestellt. Die bedeutendsten Stücke gingen nach München an die Archäologische Staatssammlung.
„Obernburg ist der tollste Platz am Limes!“
Nachbauten sind zurzeit in Obernburg nicht geplant, wohl aber virtuelle Rekonstruktionen und die Erweiterung des kleinen Museums zum Museumskarree, in dem „Sonderausstellungen mit Exponaten aus München stattfinden können“, so der Bürgermeister.
„Alle römischen Fundorte sollen in 3-D erfasst werden“, erklärt Museumsleiter Erfurth. „Ein Mega-Projekt mit der Vision, dass wir mit 3-D-Brillen durchs römische Obernburg gehen können.“ Dann braucht es nur noch ein wenig Fantasie, um sich das Treiben vor 1.800 Jahren lebhaft vorzustellen. Schon jetzt ist für den Archäologen Bernd Steidl klar: „Obernburg ist der tollste Platz am Limes!“