Das Marionettentheater Bad Tölz erweckt im Advent die „Heilige Nacht“ nach Ludwig Thoma zum Leben, zeigt Kasperl mit Geldsorgen und bringt zu Silvester Carmen auf die Bühne. Überhaupt wird in der Weihnachtszeit die halbe Stadt zur Puppenstube. Text und Fotos: Dietmar Denger
„Heilige Nacht“ im Marionettentheater Bad Tölz
Besorgt schaut es drein, das junge Paar. Die Wangen sind ganz eingefallen, keine Frage, Maria und Josef haben Stress. Das wundert nicht, denn der Winter im Voralpenland ist rau und unerbittlich und das mit dem Asyl in Bayern ist auch so eine Sache.
Schnee fegt über Wiesen und Berge. Und wie die Natur, so scheinen auch die Herzen vieler Menschen erstarrt zu sein. Dann auch noch die Schwangerschaft! Da sitzen sie nun in einem armseligen Hüttchen und wissen nicht mehr weiter.
Es dauert nur ein paar Minuten in dieser „Heiligen Nacht“, bis man vergisst, dass die Protagonisten auf der Bühne aus Holz sind. Eine zauberhafte Illusion dank virtuoser Fingerübung der Puppenspieler im Marionettentheater Bad Tölz.
Weihnachtsgeschichte am seidenen Faden
Diese besondere biblische Weihnachtsgeschichte in der Version von Ludwig Thoma ist ein bayerischer Klassiker, der eher weniger zu süßer Lebkuchen-Romantik passt. Am Ende des Ersten Weltkriegs schrieb der Schriftsteller und Veteran das Werk, das er in der Voralpenlandschaft ansiedelte, wo Maria hilflos durch den Schnee stapft und auf reiche Menschen ohne Mitgefühl trifft.
Die Sozialkritik verpackt in regionale Mundart hat nichts von dem Märchenhaften, das ansonsten im Traditionshaus auf dem Spielplan steht. Wohl auch deshalb ist es das Herzensprojekt von Albert Maly-Motta und Karl-Heinz Bille, die zusammen das Theater leiten. Auf die aufwendige Produktion sind sie zu Recht stolz. Denn während Thoma‘s „Heilige Nacht“ allerorten bei vorweihnachtlichen Veranstaltungen vorgelesen wird, bietet das Tölzer Puppenteam die einzige szenische Fassung.
Dafür haben sie sich sehr viel Mühe gemacht. Das wechselnde Bühnenbild ist insgesamt zwölf Meter lang, die Hintergründe sind dabei liebevoll gemalt. Die Figuren, die auch ohne Bewegung schon lebendig wirken, wurden von einem bekannten Krippenschnitzer entworfen. Begleitet wird das Stück von mehreren Musikern.
Theatertradition im Fadenkreuz
An die 1.000 Akteure umfasst die Riege vom Marionettentheater, pensionierte Darsteller mit eingeschlossen. Ganz genau wissen sie es gar nicht, gibt Maly-Motta zu. Auf dem Dachboden sind sie aufgereiht, die Könige und Diebe, die Hexen und Zauberer, die kleinen Helden und armen Tropfe.
Mehr als hundert Jahre lang tanzen in Tölz schon die Puppen, in der Zeit ist halt einiges zusammengekommen. Gegründet wurde das Theater von Georg Pacher, einem Apotheker mit ausgeprägtem Spieltrieb. Aufführungen fanden damals noch statt im Salettl des Bürgergartens.
Die alten Puppen, von denen einige im kleinen Museum im Theater ausgestellt sind, waren dabei längst nicht so agil wie die aktuellen Akteure. Die meisten konnten nur den Kopf und die Hände bewegen.
100 Zuschauer, 7 Spieler, 1.000 Figuren
1953 wurde das heutige Theater eröffnet mit seinen 100 Zuschauerplätzen. Ein Haus, das der großen Kunst Rechnung trägt. Was die geschnitzten Mimen mit ihren menschlichen Vorbildern gemeinsam haben, sei der ganz individuelle Charakter, so Maly-Motta.
„Man braucht ein paar Jahre, bis man sich eingefühlt hat und die Hauptfigur eines Stücks richtig bewegen kann.“ Das ist pures Understatement, schließlich fließt die eigene Persönlichkeit stark ein ins Agieren der Puppe. Sieben Marionetten-spielerinnen und -spieler erwecken von einem Gerüst über der Bühne aus die-Figuren zum Leben, die Schulter- und Kopffäden am Führungskreuz in der einen Hand, die Bewegungsfäden in der anderen.
Backstage: Hightech wie bei den Großen
Für jene hölzernen Darsteller, die gerade Pause haben, ist im Backstage Abhängen angesagt. Neben dem hohen Gerüst findet sich jede Menge Hightech. Haus und Saal sind herrlich nostalgisch, Licht und Ton dagegen längst computergesteuert. Und auch sonst geht man mit der Zeit. So kommen die neuen Figuren aus dem 3-D-Drucker, auf der Bühne werden öfter mal Videoprojektionen eingesetzt.
Beim Spielplan schaut man auch in die Zukunft. Bei der Science-Fiction-Story „Der Kristallplanet“ etwa fliegen computeranimierte Raumschiffe durch die Gegend. Wer dabei auf den Geschmack kommt, kann nebenan im Theater sogar richtig abgespaced auf die Reise gehen: Hobbyastronom Maly-Motta bietet in einem kleinen Planetarium regelmäßig virtuelle Trips an zu Sonne, Mond und Sternen.
Von Los Angeles nach Bad Tölz
Seit 23 Jahren zieht Maly-Mott zusammen mit Karl-Heinz Bille im kleinen Haus am Schlossplatz die Fäden. Zuvor arbeitete er bei Marionettentheatern in Salzburg, München und Los Angeles und war dann viele Jahre mit mobilen Theatern unterwegs.
Bille entstammt einer Marionettentheater-Dynastie, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht und vertritt deren neunte Generation. Bei so viel Kompetenz darf man sicher sein, dass selbst „Hänsel und Gretel“ nicht altbacken daherkommt, auch wenn die Knusperhexe auch bei Maly-Mota und Bille als Barbecue endet.
In der Adventszeit steht neben diesem Märchen-Klassiker noch „Rumpestilzchen“ auf dem Programm. Und das „Geschenk vom Nikolaus“, wo das Kasperl knapp bei Kasse ist und deshalb Ärger mit dem Vermieter hat. Aber zum Glück gibt’s ja den Nikolaus mit seiner Wunschlaterne.
Zur „Heiligen Nacht“ und Silvester gibt es sogar eine Marionetten-Oper, an der die beiden jahrelang gefeilt haben: „Carmen or not“ sollte schon länger auf die Bühne kommen, was Corona allerdings verhindert hatte.
Tölz: Stadt der Puppenhäuser
Ludwig Thoma war übrigens nicht der einzige, der die biblische Weihnachtsgeschichte in die verschneiten Alpen verlegte. Weit vor seiner Zeit entstanden in Bayern, Salzburg und Tirol die Weihnachts- und Hirtenspiele. Die Autoren wollten die Story so erzählen, dass sich jeder etwas vorstellen konnte. Auch bei Menschen, die nie über ihr Dorf hinausgekommen sind, sollte die Message ankommen. Zu viel Orient war da eher störend.
So sahen das auch die Krippenbauer des Barock: In den so genannten Heimatkrippen kommt das Jesuskind auf dem bayerischen Bauernhof oder in der Kapelle auf die Welt. Auf dem Tölzer Christkindlmarkt ist so eine Heimatkrippe ausgestellt. Und sie ist längst nicht das einzige Weihnachtsstilleben.
Bad Tölz ist die Stadt der sakralen Puppenhäuser von biblischem Ausmaß. Der örtliche Krippenverein hat ganze Arbeit geleistet, aber nicht nur der: Im Flyer zum „Tölzer Krippenweg“ sind 61 Krippen aufgelistet, von klein bis lebensgroß, die in Kirchen stehen, in Gasthäusern und sogar im Schuh- und Sportgeschäft in Ehrfurcht erstarrt der Betrachtung harren.
Wem das zu wenig Action ist, sollte sich die nächste Karte fürs Marionettentheater kaufen!