… aber nicht abgehoben ziehen Reiter und Gespanne jeden ersten Novembersonntag zum Leonhardifest durch Aigen am Inn, einem Ortsteil des bekannten Kurorts Bad Füssing. Wer für ein paar Stunden auf Thermalbad und Sauna verzichtet, erlebt ein farbenprächtiges Spektakel
Leonhardiritt in Aigen am Inn
Bubi und Flori sind etwas nervös, und das kann man ihnen nicht verdenken. Schließlich sind sie erst heute Morgen aus Deggendorf angereist. Dann haben ihnen die „Rosserer“ das Festgeschirr angelegt, alles handgestickt aus feinstem Leder. Den beiden Schwarzwälder Kaltblütern ist das edle Outfit wohl eher egal. Vielleicht wittern sie Fritz und Peter, die beiden 16 Jahre alten Veteranen des Aigener Leonhardiritts, die ein Stück weit entfernt gerade eingeschirrt werden.
Vier Hufe statt vier Räder
Brrr! Bubi schüttelt sein Haupt mit der weißen Mähne, auch Flori wird unruhig. Ein Schnauben und Stampfen erfüllt den Hof. Schon vor 300 Jahren wurden hier Pferde beschlagen. Längst residiert ein Autohaus auf dem Gelände, doch für die Vorbereitungen zum Leonhardiritt haben vier Hufe eindeutig Vorrang vor vier Rädern.
Seit dem Mittelalter gilt der Heilige Leonhard in Altbayern als Schutzpatron des Viehs, ganz besonders der Pferde
Auch draußen auf der schmucken Bauerngasse stehen Pferdekarren für den Umzug bereit, darunter wendige Landauer, von denen später der Bürgermeister, der Landrat und andere Honoratioren in die Menge winken werden. Jedes Jahr ist Aigen am Inn am ersten Novembersonntag im Ausnahmezustand (außer er fällt auf Allerheiligen).
Anlass ist das Gedenken an den Heiligen Leonhard von Limoges. Um das Jahr 500 geboren, zog er nach einer Erziehung durch Erzbischof Remigius von Reims das Leben als frommer Einsiedler der Bischofswürde vor und widmete sich vor allem dem Schicksal von Gefangenen.
Seit dem Mittelalter gilt er in Altbayern zudem als Schutzpatron des Viehs, ganz besonders der Pferde – vermutlich, weil im Volksglauben die Ketten der Gefangenen mit angekettetem Vieh in Verbindung gebracht wurden.
Auch in anderen Orten Bayerns wird der Heilige Leonhard mit Prozessionen gefeiert, in Oberbayern etwa in Froschhausen bei Murnau oder in Bad Tölz, in Illerbeuren im Allgäu oder im oberpfälzischen Pfarrdorf Beidl – jeweils am oder nahe seinem kirchlichen Gedenktag, dem 6. November.
Legende mit Lücken
Ob es Jakobuspilger waren oder durchreisende Kreuzritter – woher die Leonhardi-Verehrung in Aigen am Inn kommt, ist nicht belegt. Angeblich bargen Innfischer einst eine wundersame hölzerne Figur des Heiligen, die gegen alle Gesetze der Physik gegen den Strom schwamm, aus den Fluten des Flusses.
Sicher ist, dass bereits um das Jahr 1250 die Wallfahrtskirche St. Leonhard als Nachfolgerin einer älteren hölzernen Kapelle entstand. Und dazu gehört natürlich eine hübsche Geschichte. Sie handelt von der Tochter des Grafen Katzenberg auf der gegenüberliegenden Seite des Inn. Sie wurde „geraubt“, wie es damals wohl öfter vorkam.
Beim Beten um ihre Freilassung legte sie das Gelübde ab, dem Heiligen Leonhard als Schutzpatron aller Gefangenen eine Kapelle zu bauen. Just als die Statue im Inn vorbeitrieb, erinnerte ihr Vater sie an diese Verpflichtung... oder so ähnlich.
Edelfräulein in Samt-Roben
Jedenfalls ist die Rolle der Grafentochter heute eine der wichtigsten auf den thematisch aufwändig dekorierten Umzugswagen, die meist von vier prachtvoll geschmückten Pferden gezogen werden. Weitere Edelfräulein begleiten sie, allesamt in eigens gefertigte Samtroben gekleidet.
Hinzu kommen grimmige Bewacher der erbarmungswürdig in Ketten gelegten Grafentochter, Knappen, Herolde, Grafen, Ministranten, Fischer, ein Fürstbischof und natürlich zahlreiche Mitglieder des Aigener Trachtenvereins. Eine eigene Gruppe bilden die würdevoll schreitenden „Goldhaubenfrauen“ mit ihrem glänzenden Kopfschmuck nach Linzer Art – Österreich ist schließlich nicht weit entfernt.
Und dann ist da der Heilige Leonhard selbst. Bereits 18 mal stellte Leonhard Buchinger ihn dar. Das ist quasi ein Familienerbe, sein Vater hatte diese Rolle mehr als 40 Jahre lang inne. Der Vorname ist kein Zufall: Wie in vielen Orten, in denen ein bestimmter Heiliger verehrt wird, ist dessen Name recht verbreitet.
Und in Aigen am Inn achtet man darauf, dass nur ein echter Leonhard den Heiligen verkörpert. Leider ist ausgerechnet an Leonhrads Wagen eine Deichsel gebrochen, was den Umzug ein wenig verzögert. Buchinger in seiner Mönchskutte nimmt’s gelassen: „Irgendwas ist immer, bevor es endlich losgeht.“
Start beim Leonhardi-Museum
Während Leonhard auf seinen Wagen wartet, checken die Edelfräulein ein letztes Mal ihr Make-up, die Frisuren – und die Smartphones. Die Grafentochter sucht im Gewühl ihre Handtasche, die sie irgendwo verlegt hat. Das gesamte Erdgeschoss des Aigener Leonhardi-Museums hat sich in eine Garderobe nebst Kommandozentrale verwandelt.
Heute hat natürlich niemand Zeit, das Museum im ersten Stock zu besuchen, in dem unter anderem alte Eisenopfer zu sehen sind, die dem Heiligen Leonhard zum Dank oder zur Fürbitte für die Tiere dargebracht wurden: rührend schiefe Schafe, viele Pferde und die speziell in Aigen häufigen Votivgänse aus Eisen, Silber, Wachs oder Holz.
Am Tag des Leonhardiritts werden im Museum alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer eingekleidet, hier fahren die Wagen vor, hier soll es um 14 Uhr losgehen, aber eine halbe Stunde später wird es dann doch.
Schnaps aus dem Inntal
Die Aigener und ihre Festgäste haben sich derweil längst entlang der Strecke aufgereiht. Viele waren schon zum Böllerschießen und halb zehn Uhr da und bummelten dann an den Buden der Dult vorbei.
Da gibt es Passauer Pferdewurst neben „Rosi’s süßer Insel“ sowie eine ganz ausgezeichnete Fischsuppe am Stand der „Fischereikameradschaft Aigen am Inn 1980“. Auch die Fischpflanzerl und die frisch geräucherte Forelle gehen gut, das Bier sowieso.
Epizentrum des Geschehens ist der mit allerlei Sinnsprüchen gezierte Innenhof der Bäckerei Fischer. An einem ständig dicht umlagerten Stand schenkt die „Hausbrennerei zum Voglbauer“ Hollermost, Inntaler Nussschnaps und „inntal Dry Gin“ aus und für Hartgesottene bayerischen Blutwurz.
Alle im Ort helfen mit
Erst im Jahr 1972 wurde die Tradition des Leonhardiumzugs nebst Markttreiben in Aigen am Inn wiederbelebt und ist mit bis zu 10.000 Besuchern längst die größte Attraktion des 1.000-Einwohner-Orts in weitem Umkreis. Alle helfen mit: Feuerwehr, Schützen- und Sportvereine, Krieger- und Soldatenkameradschaft und natürlich der Heimat- und Trachtenverein „Inntaler Buam“, der den Umzug organisiert – Wolfgang Doppelhammer, der Erste Vorstand, hält als Festleiter die Zügel in der Hand.
Mit bis zu 10.000 Besuchern ist das Fest längst die größte Attraktion des 1.000-Einwohner-Orts
Bereits am Vorabend stimmt eine Lichterprozession mit anschließendem Gottesdienst auf das Ereignis ein. Auch beim Umzug muss der Pfarrer ran, und zwar hoch zu Ross, wie es der Brauch will. Seit 2020 ist Bernd Kasper Ortspfarrer der Gemeinde und alles andere als ein passionierter Reiter: „Augen zu und durch“, sagt er schmunzelnd, „Jesus ist schließlich auf einem Esel geritten.“
Zur „Geistlichkeit zu Ross“, wie es im Festprotokoll heißt, gehören auch sein Pockinger Amtskollege Christian Thiel sowie Festzelebrant Wolfgang de Jong – diese Rolle hat traditionell immer ein auswärtiger Pfarrer inne.
Segnung unter freiem Himmel
Blasmusik setzt ein, begleitet vom Wiehern der Pferde. Vom Museum aus bewegt sich der Zug an den winkenden Zuschauern vorbei im Bogen durch die alte Hofmark, das Ortszentrum von Aigen. Vorneweg die Vorreiter mit Kreuz und Leonhardi-Standarte, gefolgt von den Goldhaubenfrauen, den Festwägen, den Landauern mit den Ehrengästen und zahlreichen Reiterinnen und -reitern aus Niederbayern und Oberösterreich.
Auf der Leonhardi-Wiese nahe der Wallfahrtskirche endet die Prozession vor einem blumengeschmückten Altar unter freiem Himmel. Reiter und Gespanne paradieren an ihm vorbei. Auch Bubi und Flori bedenkt der Festzelebrant mit Segenswünschen und einigen Spritzern Weihwasser, auf dass sie von Krankheiten und Unfällen verschont bleiben mögen. Pfia Gott und bis zum nächsten Jahr!