Fingerhakeln ist ein ehrlicher Sport für echte Kraftkerle. Die Regeln sind einfach. Getrickst werden kann kaum. Schnellkraft, gute Finger und Konzentration sind gefragt. Alles ist klar und einfach: Der Stärkere hat Recht. Der Stärkere gewinnt. Der Beste zieht alle über den Tisch …
Deutsche Meisterschaft im Fingerhakeln
Am 30. April 2023 rufen, wie jeden Sonntag in Mittenwald, die Glocken von St. Peter und Paul zum Gottesdienst. Es kommen aber nur die Frauen und Kinder. Die Männer hocken in Festtagstracht in der Turnhalle an langen Tischen, essen Schweinebraten mit Knödel und brüllen: „Au-erberg!!“, „I-sar-gau!!“, „Wer-den-fels!!“, „Schlierach-gau!!“ oder „Boarischa Woid!!“ – je nachdem, wer gerade wen auf der Bühne fertigmacht.
Die Fingerhakler wollen wissen, wer der Deutsche Meister im sprichwörtlichen „Überden-Tisch-Ziehen“ wird. Deutsche Meisterschaft heißt dabei aber nicht, dass sich auch nur ein einziger Nichtbayer hierher trauen würde. „Zieht“, schreit der Schiri. Der Titelverteidiger, der Utzschneider Josef aus Werdenfels, hockt rechts am Tisch, der Brandhofer Josef aus dem Isargau links. Beide haben ihre Mittelfinger in einer Lederschlaufe über der Mitte des Tisches.
Eine Frage von Sekunden
Schon nach einer Sekunde sind ihre Gesichter rot und verzerrt vor Anstrengung. Mit den Knien drücken sie gegen die gepolsterte Tischkante.
Zwei Sekunden. Der Utzschneider stemmt die freie Hand gegen das Tischbein. Der Brandhofer liegt mit angezogenen Beinen quer auf seinem Hocker.
Drei Sekunden. Hinter den beiden Kämpfern sitzen sogenannte Auffänger. Sie strecken die Hände vor, denn gleich wird einer die Schlaufe loslassen und mit Wucht nach hinten schnellen.
Vier Sekunden. Der Brandhofer Josef hat den Hocker aufgeben müssen und liegt jetzt halb auf dem Tisch, die Kante mit der Linie ist ganz nah.
Fünf Sekunden. Auf keinen Fall darf er sich da drüberziehen lassen, lieber reißt er sich den Arm ab. Es geht jetzt wirklich um die Wurst.
Die Regeln sind schlicht. Wer innerhalb der jeweiligen Gewichtsklasse gegeneinander antritt, wird ausgelost. Wenn der Schiri „Zieht!“ schreit, wird gezogen. An der Tischkante verläuft ein Strich. Wer den Mittelfinger des Gegners über diese Grenze kriegt, hat gewonnen. Wer zweimal verliert, fliegt raus.
Finale: Utzschneider gegen Brandhofer
163 Hakler und 440 Kämpfe hat es gebraucht bis zum finalen Kräftemessen zwischen den Herren Utzschneider und Brandhofer. Danach kommen die ganz schweren Jungs, die Königsklasse. Zur Belohnung fürs Mitmachen darf sich jeder Teilnehmer je nach Platzierung einen Preis aussuchen. Es gibt zum Beispiel Werkzeug, einen Kanister Maschinenöl, Motorradhelme. Fingerhakeln ist Männersache.
„Dass uns do oana wos verzählt, brauch ma ned"
Die Fachleute im Saal fiebern seit sieben Stunden mit, ohne Moderatorenfirlefanz. Bier gibt’s freilich schon, sonst würde sich die Sache arg hinziehen. „Dass uns do oana wos verzählt, brauch ma ned“, findet Anton, der Utzschneider Senior. „Des langt, wenn oana die Leit ankündigt.“ Dann muss er sich gleich wieder konzentrieren. Wird sein Sohn in diesem Moment oben auf der Bühne den Isargauer besiegen? Die älteren ehemaligen Hakler an seinem Tisch nicken.
Training mit 52 Kilo Beton
Auf der Wiese neben dem Eingang zur Turnhalle wird ein letztes Mal trainiert oder geraucht – oder beides. Die meisten Männer haben Expander dabei, an denen sie ziehen. Manche arbeiten sich an einer Stahlfeder ab. Die Anspannung ist groß, reine Gewalt genügt nicht.
„Du musst deine Kraft blitzschnell einsetzen können. Wenn das Kommando kommt, darfst du nicht den Bruchteil einer Sekunde zögern“, erklärt mir einer der Hakler, „dann musst du den Dehnungsschmerz aushalten. Fünf Sachen brauchst also: Konzentration, Kraft, gute Finger, Schnelligkeit und Durchhaltevermögen.
„Beim Wettkampf hast du einen Zug von 200 Kilo auf dem Finger!“
Der Utzschneider Josef hat vor dem Kampf monatelang trainiert, zweimal die Woche in der winzigen Hobbywerkstatt in Ohlstadt. An was dort normalerweise gewerkelt wird, außer an der Stärkung der Mittelfinger, lässt sich schwer sagen. Als Auskunft muss reichen, dass der Bruder vom Josef, also der Anton, Schreiner ist.
Hakeln tut der Anton auch, eh klar. Es werden nicht viele Worte verloren. Unter der Werkbank liegen Gewichte und Betonbrocken, „Für die Kinder“, brummt Anton, „nur zehn oder zwanzig Kilo.“
In der Mitte des Raums ist ein alter Holztisch am Betonboden verschraubt. Über eine Umlenkrolle an der Tischkante läuft ein Seil, an einem Ende ist ein 52 Kilo schwerer Betonklotz befestigt, am anderen eine Lederschlaufe, wie sie beim Zweikampf verwendet wird. Da kommt der Mittelfinger rein, wurscht, ob rechts oder links. Dann lupfen die Brüder abwechselnd das 52-Kilo-Monster scheinbar mühelos vom Boden.
Das Gewicht baumelt in der Luft, während die Männer sich angrinsen. „Das hier ist nix. Beim Wettkampf hast einen Zug von bis zu 200 Kilo drauf “, erklärt der Josef, „das hältst du nicht lang. Zehn Sekunden kommen dir vor wie eine Ewigkeit. Du denkst nur: Gib auf! Der auf der anderen Seite muss aufgeben!“ Pech gehabt, wer an den 90-Kilo-Mann gerät und einen Wettkampf mit ihm austragen muss.
Hakeln wird vererbt
Man ahnt schon etwas, wenn einem der Utzschneider Josef die Hand reicht. Dicke, harte Hornhaut ist zu spüren, seine Pranken sind groß wie Bärentatzen, mindestens. „Da ist eine Gewalt dahinter“, stellt der Mechaniker zufrieden fest. „Da weiß der andere gleich, woran er ist.“ Für seine großen, kräftigen Hände kann er nichts, die muss er geerbt haben. Auch das Talent. Vater Anton war schon ständig Meister im Fingerhakeln.
Deutscher Meister, Bayerischer Meister. Und Alpenländischer Meister beim härtesten Wettbewerb – da kommen die Österreicher dazu. Der Opa hat auch gehakelt, der Uropa und so weiter bis zu den Holzknechten, von denen die Utzschneiders wahrscheinlich einige als Ahnen vorweisen könnten. Im Werdenfelser Land liegt das auf der Hand. Was für Kerle das waren, kann man sich vorstellen, wenn man gesehen hat, wie das Wasser durch die nahe Gleirschklamm tobt und tost. Durch diesen Höllenschlund haben die Holzknechte Baumstämme ins Tal getriftet.
Hauptpreis ist die Ehre
„Ja mei, des Hakeln haben diese Mannsbilder vor mindestens 400 Jahren schon in der Wirtschaft gemacht – statt Raufen“, konstatiert der ältere Utzschneider Anton. Wer den anderen über den Wirtshaustisch zog, war im Recht. Jetzt geht es um die Ehre. Da wäre es schon gut, wenn sein Sohn Josef heute dem Isargauer heimleuchten würde, in diesem Augenblick, da oben auf der Bühne.
Sechs Gegner hat der Utzschneider Josef in jeweils ein oder zwei Sekunden abgefertigt. Der Brandhofer will nicht die Nummer sieben sein. Ob er gegen den Titelverteidiger ankommt? Den hat seit Jahren keiner über die Linie gezogen. Dann passiert es: Der Utzschneider Josef gibt etwas nach, lässt sich bis zur Mitte des Tisches zurückholen. Sechs Sekunden. „Isargau!!“, „Werdenfels!!“, brüllen 300 Zuschauer im Saal. Die Kämpfer schnappen nach Luft. Sieben Sekunden. Der Josef greift wieder an. Und der Brandhofer geht über den Tisch. Aus! „Sieger ist der Utzschneider Josef aus Werdenfels!“ Benommenes Schulterklopfen. Breitbeiniger Abgang. Blasmusik.