Ausfahrt mit historischen Traktoren
Tüftler und Mächler

Am Auerberg im östlichen Allgäu lädt eine wahre Bilderbuchlandschaft zum Wandern, Radfahren und Genießen ein. In den Ortschaften wird an alten Traktoren gewerkelt, nachhaltiges Hundefutter erfunden und ein verfallener Hof zu neuem Leben erweckt – weil die Menschen „Mächler“ sind

Lesezeit: 15 Minuten

Tüftler und Mächler: Unterwegs am Auerberg im Allgäu

Vor dem Rettenbacher Rathaus steht eine „Stundensäule“. 20 Stunden sind es bis zum Marienplatz in München, gute drei bis zum regionalen Zentrum Marktoberdorf. Heute braucht man mit dem Auto jeweils rund eineinhalb Stunden beziehungsweise zehn Minuten, doch Ende des 18. Jahrhunderts, als König Ludwig I. das Aufstellen der gravierten Granitsteine verfügte, maß man noch nach Gehzeit.

Viel schneller sind die Oldtimer-Traktoren des Vereins „D’Weichbergfuhrwerker“ auch nicht unterwegs: 20, vielleicht 25 Kilometer in der Stunde schaffen die Bulldogs, Fendts, Hanomags und Eicher aus den 1950ern und 1960ern. Das aber unter viel Schnaufen, Rumpeln und Ächzen – und mit fantastischer Aussicht bei der gemeinsamen Ausfahrt über den Kienberg zum Maibaumfest im Weiler Sulzschneid. Rennradler flitzen an ihnen vorbei, gemütlichere E-Bike-Fahrer begleiten den Traktor-Tross eine Zeit lang und biegen dann auf einen der vielen gut markierten Radwege ab. Im Hintergrund rahmen hohe Gipfel die saftig-grünen Weiden, Streuobstwiesen und vereinzelten Kirchtürme ein, sogar die Zugspitze weit drüben in Oberbayern ist zu erkennen.

Traktorenkollone

Der Eicher-Bulli ist seit 1952 am Schuften

Einzeln sieht man die Bullis durchaus öfter in der lieblichen Landschaft des östlichen Allgäus umherfahren. „Zum Heumachen nehmen wir ihn schon noch her“, brüllt Martin, der mit seinem Sohn Luis gekommen ist, von seinem grünen Fendt-Traktor herunter.

„Einen kleinen Kartoffelacker pflügen wir auch noch damit“, sagt Hildegard und tätschelt liebevoll ihren Eicher-Bulli Baujahr 1952, fünf Gänge, 16 PS. Der Lack ist picobello, die Gänge flutschen.

Ihr Mann Wolfgang hat ihn mit tatkräftiger Unterstützung der Vereinsmitglieder „ganz auseinandergebaut und wieder gerichtet“, erzählt sie. Martin ergänzt: „Viele Ersatzteile gibt es natürlich nicht mehr. Dann machen wir sie uns eben selbst.“ „Denn“, so Hildegard, „die Allgäuer sind einfach Tüftler und Mächler.“

Vater mit Kind

Allgäuer Vordenker: Biohof seit 1959

Mächler kommt von Machen. Hat aber nichts mit hektischem „Mackertum“ zu tun. Sondern mit Schauen, Sondieren, Ausprobieren und Zusammenhelfen. Wie bei Renate und Stefan vom Biolandhof Schreyer bei Stötten. Schon 1959 stellte Stefans Großvater auf biologische Landwirtschaft um, er war einer der Pioniere auf diesem Gebiet. Den Viechern sollte es gut gehen.

Bis heute ist die Produktion von Heumilch das Kerngeschäft, aber Renate hatte eine Idee: Warum nicht die Teile geschlachteter Tiere, die sonst nicht zu verwerten waren, zu nachhaltigem Hundefutter verarbeiten?

Sie greift in eine Kiste mit undefinierbar grau-braunem Zeug und erklärt: „Das sind Leckerli aus Innereien wie Leber, Zunge, Herz, Nieren und Milz.“ Beim Hund isst ja nicht das Auge, sondern vor allem die Nase mit … Auch Kauspielzeug gibt es, von Hand hergestellt aus Kuhhaut mit Haar: „Das reinigt den Magen- und Darmtrakt.“

Mit seidigem Fell und spritziger Energie sind die beiden Hofhunde Ima und der bereits zwölfjährige Jack-Russell-Chihuahua-Mischling Flash beste Beispiele für den Nutzen des ebenso nachhaltigen wie natürlichen Futters. LOGI heißt es, abgekürzt für „lecker, ohne Konservierungsmittel, gesund und innovativ“. Es kann vor Ort oder online auf biolandhofschreyer.shop gekauft werden.

Rinder beweiden das Moor

Stefan kommt gerade vom Holzmachen im Wald zurück. Vor dem Haus blühen die Apfelbäume, Boskop und Jonagold, die meisten noch vom Opa gepflanzt. Seit einigen Jahren verarbeitet Stefan das Obst in seiner eigenen Hausdestillerie zu Bränden, die bereits mehrfach ausgezeichnet wurden.

Gerade wagt er sich an einen Single Malt Dinkel-Whisky, „aber der braucht noch sechs, sieben Jahre“. Kurz schaut er noch im Stall vorbei, in dem sich die Rinder an frischem, grünem Heu gütlich tun. In einem Gatter wenden sich ihm wollige Köpfe zu, raue Zungen schlecken an seiner Hand: Galloway-Rinder. Sie werden, nach einem letzten Check durch den Tierarzt, bald ins nahe gelegene Stöttener Moor gebracht, wo sie die sumpfigen Wiesen extensiv beweiden.

Brennerei
Apfelbrand

Wo die Bauern Torf stachen

Im Moor, von den Allgäuern „Moos“ genannt, kennt Walter Sirch sich aus. Noch sein Vater und erst recht der Großvater hatten in der mittlerweile streng geschützten Landschaft Torf gestochen. Handtuchschmale Parzellen waren einst den anliegenden Bauern zur Torfnutzung zugeteilt – Holz war teuer, Kohle sowieso, und deshalb holte man sich das Brennmaterial aus dem Moos.

Als Kind musste Sirch noch beim Torfstechen mithelfen und schichtete die „Wasen“ genannten Torfstücke zum Trocknen auf. Heute engagiert sich der Trachtler und Kabarettist als ausgebildeter Moorführer für den Schutz der ökologisch wertvollen Landschaft. 

Seit 1976 steht das Moor unter Naturschutz, auf großen Flächen wachsen mittlerweile Fichtenwälder – doch zwischendrin sieht man immer noch Gräben und Abbruchkanten aus vergangener Zeit, ebenso wie die Schutzhütten, die sich die Bauern im Moos errichteten.

Rettenbach

Rundweg und Radlrouten

Drachenwurz, Besenheide, Preiselbeere, Scheiden-Wollgras und viele weitere Pflanzen wachsen im Moos. Bei einem gemächlichen Rundgang auf dem rund vier Kilometer langen Moorerlebnispfad kann man sie entdecken. Auch Radwege führen am Stöttener Moor entlang und weiter über hügelige, aussichtsreiche Strecken, wie sie auch die stolzen Traktorfahrer unter die Räder nahmen.

Viele Radler übernachten im lokalen Zentrum Marktoberdorf, wo die Auswahl an Hotels für eine 20.000-Einwohner-Stadt erstaunlich groß ist. Wie auch die Zahl an Traktoren: Im „Fendt-Forum“ können kleine und große Fans den mächtigen Landmaschinen modernster Bauart ganz nahe kommen.

Panoramablick bis zur Zugspitze

Sportliche Biker peilen den 1.055 Meter hohen Auerberg an. Schon bei der Auffahrt genießt man ein phänomenales Panorama, das vom Hohen Peißenberg bis zur Zugspitze reicht. Die stehen beide in Oberbayern. Julia und Stephan haben hingegen jeden Tag die Allgäuer Alpen im Blick, darunter den 1.738 Meter hohen Grünten, den sogenannten Wächter des Allgäus.

Die Aussicht von ihrem großen Hof mit Rindern, Schafen, Pferden, Eseln und Ziegen reicht bis zum Säuling, an dem die Königsschlösser Neuschwanstein und Hohenschwangau kleben – man ahnt sie aber nur, wenn man es weiß, denn sie sind schon weit entfernt.

Pferd mit Fohlen
Ausblick Alpenkette

Die Mächler vom Mächlerhof

Die Verwandlung des ehemals maroden Stöttener Anwesens in ein gastfreundliches Refugium war ihr Lebenstraum. Mit viel Eigenleistung bauten Julia und Stephan den mehr als 100 Jahre alten Hof komplett um, wobei sie alte Balken und Strukturen bewahrten, wo immer es ging.

Seit 2023 gibt es hier drei Maisonettewohnungen, ein Apartment und drei Tiny Houses, eines davon ein ehemaliges Bienenhaus. Und ein Restaurant mit Terrasse und einer langen Tafel im sorgsam restaurierten ehemaligen Stall.

Dort platziert Julia die Gäste für ein ebenso feines wie kommunikatives Essen. Stephan, der gerade noch die Sonnenschirme auf der Terrasse aufgestellt hat, verschwindet in der Küche und serviert nach kurzer Zeit eine fein angerichtete Wildpâté mit Rhabarber-Chutney als Vorspeise und danach rosa gebratene Lammhüfte mit Frühlingsgemüse und cremiger Polenta. Das Fleisch stammt aus eigener Schlachtung. Auch Nudeln, Eis, Kuchen und vieles mehr produzieren sie selbst. Muss man sich wundern, dass die beiden ihr Domizil „Mächlerhof“ genannt haben?

Wildpatè
Lammhüfte

Supermarkt als Dorfladen

Ein „Mächler“ ist auch Rettenbachs Bürgermeister Reiner Friedl. Seit 2014 steht er dem 950-Einwohner-Ort vor. Beim Treffen nimmt er zuerst den Besen in die Hand, weil vor dem Dorfladen-Café zu viel Laub herumliegt, und rückt die Stühle zurecht. Wobei „Dorfladen“ stark untertrieben ist.

Ein richtiger Vollsortimenter ist der „Weichbergmarkt“, untergebracht in einem dermaßen großzügig dimensionierten Holzbau, dass das Rathaus wohl locker zweimal hineinpassen würde. Friedls Vorgänger hatte die Idee, Wertschöpfung im Dorf zu halten, statt sie weit entfernten Discountern zu überlassen.

Vorreiter bei Solarenergie

Auch ökologisch ist Rettenbach eine Vorzeige-Gemeinde. Ein guter Teil der Häuser trägt Solarpaneele auf dem Dach. Martin Sambale, Geschäftsführer des Energie- und Umweltzentrums Allgäu (eza), stellt lobend fest:

„Rettenbach war schon sehr früh und mit viel persönlichem Engagement bei der Nutzung von Solarenergie vorne dran.“

Die Rettenbacher können es sich leisten. Viele arbeiten in dem für ein Dorf dieser Größe erstaunlich ausgedehnten Gewerbegebiet, in dem diverse Firmen Forstgeräte wie selbstfahrende Raupen, Rasenkehrmaschinen (Friedl: „Bei der Fußball-WM 2006 kam kein Stadion ohne sie aus!“) oder umweltschonende Geräte zum Unkrautjäten produzieren. Tüftler und Mächler halt.

Badeweiher und Aussichtsberg

Aber jetzt muss der Bürgermeister noch schnell den tipptopp gepflegten Badeweiher mit Steg und Liegewiese herzeigen, bevor es hoch auf den Weichberg geht. Der bietet, davon ist er überzeugt, mit knapp 1.000 Meter Höhe den absolut allerbesten Blick über die Berge – da stehen sie, in ganzer Pracht, von der Zugspitze bis zum Grünten.

Die 2005 eingeweihte Magdalenenkapelle, einst ein Zankapfel zwischen Allgäuern und Oberbayern, lädt zum Innehalten ein. Und wer Bescheid weiß, findet unterhalb davon einen in bester Mächler-Tradition etwas versteckt angelegten Vorrat an Wasser und Bier. Bezahlt wird auf Vertrauensbasis, „aber es ist bisher immer aufgegangen“, so der Bürgermeister.

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