Das Gefühl von Heimat, das Gespür von Glück: Was für die Menschen die Heimat so besonders macht – und warum keiner mehr aus Lindau wegmöchte. Ein Streifzug durch die Stadt am Bodensee und zu ihren Sehenswürdigkeiten
Lindau: Dolce vita am Bodensee
Ein Morgen im Oktober. Sie blickt von ihrem Haus auf der Schachener Anhöhe nach Süden, Richtung Ufer. Die bunten Blätter der Bäume, dahinter das Wabern des Nebels, die Schleier über dem See. Darüber die leicht verschneiten Berggipfel, beschienen von der aufgehenden Sonne. Die Luft nasskalt. „Das sind für mich hier diese einzigartigen Momente“, sagt Winzerin Teresa Deufel, „diese Stimmung, diese leise Melancholie, das Licht, die Luft. Das ist für mich Heimat.“
Lindau und Umgebung, ganz am Rand des Freistaats, mehr Südwesten geht nicht. Bayern, Österreich, Schweiz, drei Länder und ein Bodensee. Eine ganz besondere Gegend mit ganz besonderen Menschen. Einheimische, die über sich erzählen und über ihre Beziehung zur Heimat. Was Lindau so reizvoll macht. So charmant. So unverwechselbar. Und warum sie alle nicht mehr wegwollen.
Teresas Weine heißen „Spannenlanger Hansel“ oder „Sprudeldicke Dirn“
Teresa und ihr Spannenlanger Hansel
Bad Schachen im Nordwesten Lindaus. Teresa steht in ihrem Weingut, drei Hektar groß. Um sie herum die Reben: Solaris, Johanniter, Cabernet Blanc. Sie bilden die ohne den Einsatz von Chemikalien rein biologisch angebaute Basis für die fruchtig aromatischen Tropfen, die es später unter schönen Namen wie „Spannenlanger Hansel“ oder „Sprudeldicke Dirn“ abgefüllt werden.
Früher, sagt Teresa, gab es natürlich Phasen, in denen sie fortwollte, weit weg, auswandern, irgendwohin in die weite Welt. Doch die Pläne änderten sich mit dem Tod ihres Vaters, der Mitte der 1970er-Jahre das Weingut aufgebaut hatte und das sie nach ihrem Winzer-Studium doch fortführte. Heute lebt sie hier mit ihrem Partner und zwei kleinen Kindern. Nun wisse sie Lindau und die Umgebung richtig zu schätzen. „Ich bin wieder zu Hause angekommen“, sagt sie.
Apfelblüte und Strandcafé
Sie liebe die Begegnungen mit den Gästen in ihrem Rädle, wie der Hofausschank eines Weinguts in der Gegend heißt. Die Ausflüge zu den Scheidegger Wasserfällen im Allgäu oder nach Wasserburg, von Selmnau auf das Bergle mit seiner Antoniuskapelle und dem phänomenalen Blick ins Land, in die Berge des Allgäu, auf den See – egal zu welcher Jahreszeit.
Das sei immer wunderbar. An solch einem Herbstmorgen, im tief verschneiten Winter, im Frühling während der Apfelblüte mit den Farbspielen der Natur in weiß und rosa und im Sommer. Teresa hat für Sommertage einen besonderen Wohlfühl-Ort, unten im Lindenhofbad mit seinem Strandcafé, seit den 1950er-Jahren eine für die Lindauer liebgewonnene Freizeit-Institution.
Dort verbrachte Teresa viele Tage ihrer Kindheit und dorthin kommt sie auch jetzt an heißen Tagen immer wieder. Manchmal auch zum Sonnenuntergang auf eine Currywurst im Strandcafé. Ein Geschmack von Heimat.
Auf den See für einen freien Kopf
Auch Alexander von Bronewski kommt gern an das Ufer am Lindenhofpark, diesem Grünstreifen, der sich heute auf einer Länge von sechs Kilometern hinüberzieht bis in den Osten zur Villa Leuchtenberg, jenseits der Reutiner Bucht.
Von Bronewski trifft man vor allem ganz früh am Morgen. Dann paddelt er noch in der Dämmerung mit seinem Kanu hinaus. Wenn er im See ist, ist er auch bei sich selbst. „Das sind die Momente, in denen ich meinen Kopf freibekomme“, sagt er, „in denen ich Energie tanke für den ganzen restlichen Tag.“
Der See als Kraftort, als Quelle der Inspiration
Ein großes, weißes Haus an der Schönauer Straße im Norden Lindaus, Jugendstil, Familienbesitz. Hier wohnen die Bronewskis, über ihm seine Schwestern, seine Mutter, Alex im Erdgeschoss. Hier hat er seine Manufaktur, unter der Arbeitsplatte meterlange Rollen Leder vom Rind, vom Pferd. An Haken in den Wänden seine Werkzeuge. Lineale und Winkel, Zangen und Hobel. Ahlen, Eisen, Riemenschneider. Dazwischen sowjetische Eishockey-Handschuhe und eine alte US-Postlertasche. Natürlich alles Leder. Sein Element.
Wenn Heimat unter die Haut geht
Von Bronewski war lang auf der Suche, sein Leben glich der Kunst des Kanufahrens. Als Anfänger schlingert man ja gern durchs Wasser. Man braucht Zeit, bis man die richtige Linie findet. Er arbeitete in der IT-Branche als Software-Spezialist, bis er durch Zufall mit dem Gießen von Gürtelschnallen begann. Fehlten nur noch die passenden Gürtel dazu.
Als Autodidakt arbeitete er sich ein in die Kunst der Ledermanufaktur, er fuhr durch die Welt, lebte ein halbes Jahr in Südamerika, später in Italien – und kam immer wieder zurück nach Bayern, in die Stadt Lindau. „Auf den Gedanken, ganz wegzuziehen, kam ich nie“, sagt von Bronewski, „im Gegenteil. Je mehr ich sah von der Welt, umso klarer wurde mir, dass ich nach Lindau gehöre. Die Lebensqualität, die Lebenskultur, das ist hier einzigartig.“
Zu von Bronewskis Markenzeichen sind die Tragetaschen geworden, das Modell „Greta“, benannt nach seiner Schwester, für die er einst den Prototypen fertigte. Inzwischen platzt das Auftragsbuch aus allen Nähten, die Wartezeit: Rund ein halbes Jahr. Wer noch eine Greta will, braucht Geduld.
Da die Insel, dort das Festland
Wer schon eine seiner Taschen hat, ist Anne-Sophie Zapf, drüben auf der Insel. Jener Insel, die man mit ihrem historischen Kern irrtümlicherweise gern gleichbedeutend mit ganz Lindau hält – wo sie dabei doch nur zwei Prozent des gesamten Stadtgebiets umfasst. Die restlichen 98 Prozent liegen drüben im Norden.
„Auf dem Festland“, wie Zapf sagt, die in der schmalen Ludwigstraße steht, mittendrin zwischen ihren beiden Start-up-Läden. Links „Der Saftladen“, der kalt gepresste Säfte aus heimischem Obst und Gemüse anbietet, alles bio, öko, regional und saisonal. Rechts „Die Werke“, eine Plattform für lokale Künstler, Designer, Handwerker.
Zapf wuchs in Lindau auf, wie sie später über einer Tasse Tee erzählt, auf der Terrasse einer dieser vielen wunderbaren Cafés und Lokale im Lindauer Hafen. Nach dem Architektur-Studium in Liechtenstein blieb sie für über zehn Jahre auf der anderen Seeseite, arbeitete als Expertin für nachhaltiges Bauen in Vorarlberg, Liechtenstein und der Schweiz an diversen Bauvorhaben mit, lehrte an Uni und FH, leitete ein europäisches Großprojekt.
Dann kehrte sie zurück nach Bayern, im Gepäck reichlich Erfahrungen und Werte, die sie in die Heimat einbringen möchte. Heute spricht sie viel über Nachhaltigkeit, in der landwirtschaftlichen Produktion wie auch im Konsum beim Endverbraucher.
Beim Bummel durch die herrlich verwinkelten Gassen beidseits der breiten Maximilianstraße treffe ich Angelo De Moliner, Drechsler und Holzkünstler. In seinem Atelier in der Schafgasse hat er auf der Drehbank einen dünnen Baumstamm eingespannt, weiß lackiert, bald werden sich noch blaue Streifen darüber winden.
"Der See ist ein magischer Ort“, sagt er noch, "ihn zu sehen und zu spüren…"
Ein Maibaum, ein Auftragswerk für den befreundeten Wirt vom Hotel gegenüber. „Eine eher untypische Arbeit für mich“, sagt De Moliner. Das Typische ist in seiner Galerie nebenan zu sehen: Objekte und Gefäße, alles Holz. Zirben aus dem Zillertal, Rosskastanie aus Lindau. Oder Esche aus Bern. Seiner Heimat.
Der Bodensee als beglückender Ort
Vor fünf Jahren zog De Moliner mit seiner Frau aus der Schweiz nach Lindau, schon bald entdeckte er auf der Insel diesen schönen, damals noch leer stehenden Raum, er fand damit ein neues Zuhause für sein Handwerk und sich selbst. Von der Herzlichkeit der Lindauer spricht er, von der Offenheit der Bewohner.
Aber auch von seiner Arbeit, wie er nach Bäumen sucht, wie er jeden einzelnen verstehen will, wie er den Charakter des Baumes in seiner Ganzheitlichkeit erhalten möchte. „Ich möchte jeden Baum lesen“, sagt er, „damit er nach der Metamorphose zu seiner neuen Daseinsform in seinen spezifischen Eigenheiten weiterlebt.“ Und seine neue Heimat? „Der Bodensee ist ein magischer Ort“, sagt er noch, „ihn zu sehen und zu spüren … und wenn der Föhn einfällt, den Süden zu riechen, das ist sehr beglückend.“
Sundowner am See
In der lauen Vorabendstimmung zieht es mich zurück an den See, auf einen Sundowner an einem kleinen Kiosk. Der Blick über das Wasser in die Berge, davor die Ausflügler und Touristen, die sich links und rechts der beiden bekannten Sehenswürdigkeiten tummeln.
Lindau ist schon auch Löwe und Leuchtturm, die bekanntesten Sehenswürdigkeiten. Aber eben auch mehr. Vor allem ist es ein Ort mit einem guten Gefühl, das sich für jeden anders erschließt. Die Lage an Berg und See, die Herzlichkeit der Menschen, das Gespür von Heimat, der Ort zur kreativen Entfaltung. Das alles gehört hier zum Glück. Und manchmal auch ein Kanu. Oder eine Currywurst im Strandbad.
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