Ludwig Stockingers „Bergyoga“ fordert den Körper, berührt die Seele und lässt den Kopf zur Ruhe kommen. Mit dabei sind immer mehr Männer, die einen sanften Ausgleich zum stressigen Alltag suchen. Wir begleiteten eine Gruppe auf den Hirschberg
Yoga am Berg: Ein Selbstversuch auf dem Hirschberg im Allgäu
„Ihr wollt meinen Yogaraum sehen? Kommt mit!“, ruft Ludwig Stockinger und federt um die Ecke seines Hauses am Ortsrand von Bad Hindelang. Goldregen, Dahlien und blühende Sträucher lugen über den Zaun seines spätsommerlich-bunten Bauerngartens. Er breitet die Arme aus und deutet auf eine saftig grüne Wiese: „Mehr als die Natur und eine Matte brauche ich nicht!“ Mit Blick auf Älpelespitze, Mittagsspitze und Gaishorn atmet der drahtige Mann tief durch und nimmt die „Heldenhaltung“ ein.
Wenn Mensch und Berg sich begegnen …
Seine Gäste führt der Yogalehrer und Bergführer hoch hinauf. Nach Oberjoch etwa, ins Naturschutzgebiet Allgäuer Hochalpen oder auf den Hirschberg. Dorthin, wo die reine Luft des heilklimatischen Kurorts Bad Hindelang nach Wiesenkräutern – und einem Hauch von Kuhfladen – duftet. Der gemeinsame Aufstieg ist Teil seines Konzepts „Berge & Yoga“.
Es geht Ludwig darum, die Natur mit allen Sinnen zu spüren, aber auch den eigenen Körper neu zu entdecken. „Wenn Mensch und Berg sich begegnen, kann Großes geschehen“, raunt er das berühmte Zitat von William Blake mit bedeutungsvollem Blick. Um gleich darauf zu grinsen: „Am Anfang haue ich immer diesen Satz raus. Der wiegt ein Pfund, weil er etwas bei den Leuten bewegt. Und dann laufen wir einfach los.“
Die Zimbel gibt den Takt an
Meist sind es Freundesgruppen oder Firmen, die im Rahmen des beruflichen Gesundheitsmanagements einen Tag „Berge & Yoga“ oder „Integrale Meditation & Waldbaden“ buchen.
„Letztens erst hatte ich eine große Gruppe mit fünfzehn Teilnehmern, die standen völlig unter Strom. Da musste ich die Zügel etwas anziehen, obwohl ich sonst eher aus dem Hintergrund Impulse gebe.“
Ludwig kramt eine kleine Zimbel aus seinem Rucksack und lässt einen glockenhellen Ton erklingen. Der weiche, melodische Klang des Instruments hilft dabei, die Aufmerksamkeit wieder zu fokussieren, die eigenen Schritte und die Schönheit des Augenblicks wahrzunehmen.
Ärger einfach ableiten
Beim Wandern lässt Ludwig die Teilnehmer erzählen, was sie im Alltag belastet, erkundigt sich nach gesundheitlichen Problemen und vor allem danach, was sie sich von diesem Tag erwarten. Viele plagen Probleme beim Schlafen und sie erhoffen sich einfache, praktikable Methoden der Entspannung.
Prinzipien des Yoga: Entspannung, Körperübungen, Atmung, Ernährung, positives Denken und Meditation
Bei einer Pause gibt Ludwig einen ersten Einblick in die unterschiedlichen Prinzipien des Yoga: richtige Entspannung, richtige Körperübungen (Asanas), richtige Atmung, richtige Ernährung, positives Denken und Meditation.
„Es geht mir immer um Ausgleich und Balance. Das Ego soll eingehegt werden, der Mensch in die Mitte kommen“, so Ludwig. Und das möglichst alltagstauglich, etwa im Supermarkt: „Wenn in der Schlange vor der Kasse Ungeduld und Ärger in mir aufsteigen, kann ich beispielsweise meine Achtsamkeit auf die Fußsohlen richten und durch sie diese Emotion ableiten.“
Der Kopf darf loslassen
Klingt einfach, erfordert aber Übung. Am Berg bekommen die Gäste einen ersten Eindruck davon, wie sie gezielt entspannen und ihre Aufmerksamkeit zentrieren können. Alle rollen ihre Matten aus und legen sich auf den Rücken.
Ludwig beginnt mit dem „Körperscanning“: Von den Zehen bis zu den Haarspitzen lädt er die Teilnehmer ein, jede Körperpartie bewusst wahrzunehmen und loszulassen. Zu spüren, wo die Fersen die Matte berühren und wie sich das kleine Luftpolster unter den Kniekehlen anfühlt, wie der Körper sich bewusst entspannt und der Kopf loslassen darf.
Spüre deinen Atem!
Schon wie die Leute auf der flachen Yogamatte liegen, verrät Ludwig einiges. „Viele überstrecken den Kopf, das ist eine ganz ungesunde Haltung, aber typisch für Menschen, die sehr angespannt sind.“ Ludwigs Stimme ist ruhig und bestimmt: „Nimm deine Augenhöhlen wahr, lass die Augäpfel einsinken, damit sie ruhen können. Spüre, wie der Atem deinen Körper bewegt. Lass los, du musst nichts halten!“
Im Schatten einer kleinen Holzhütte auf dem Hirschberg heben und senken sich gleichmäßig die Brustkörbe, während im Hintergrund ein Brünnlein plätschert und der Wind durch die Bäume streicht.
Heldenhaltung am Berg
So ausgeruht und gleichermaßen aktiviert geht es an die Asanas. Die erste Übung klingt simpel, bewegt aber viel: Aufrecht stehen, die Füße hüftbreit auseinander und dann versuchen, den Bauchnabel zur Wirbelsäule zu ziehen. Ausfallschritt. Den einen Arm nach vorn, den anderen nach hinten ausstrecken, Oberkörper gerade, ruhig atmen: Die „Heldenhaltung“ weitet den Brustkorb und richtet die Wirbelsäule auf.
Ludwig findet es interessant, dass viele Frauen intuitiv einen Schritt nach hinten statt nach vorne machen, um in die Ausgangsposition für die Heldenhaltung zu kommen. „Ihnen empfehle ich Selbst-Präsenz: Hallo hier bin ich, gehe nicht zurück, zeige dich!“
Beckenboden? Kein „Frauending“!
Die meisten Männer treten zwar automatisch selbstbewusst einen Schritt nach vorn. Doch danach verspannen sie. Ludwig empfiehlt ihnen dann, „vom Gas zu gehen“, und lädt sie ein, weicher zu werden, den Körper bewusst wahrzunehmen. Viele Männer würden sich zwar regelmäßig sportlich richtig auspowern, hätten aber häufig keinerlei Sinn für die subtilen Signale des Körpers.
Ein Klassiker in dieser Hinsicht sind Übungen, die den Beckenboden stärken: „Männer wissen oft gar nicht, dass sie überhaupt einen Beckenboden haben. Sie denken, das ist so ein Frauending.“ Dabei könne man(n) aus dem Beckenboden viel Kraft und Stabilität ziehen – und dabei auch der Prostata, die dem einen oder anderen Mann durchaus Probleme macht, auf angenehme Weise Gutes tun.
Spiritualität für den Alltag
Ludwig weiß, wovon er spricht. Und das ist nicht nur seiner Ausbildung und zahlreichen Weiterbildungen zum Yogalehrer und Trainer für Integrale Meditation und Waldbaden geschuldet. „Als Banker war ich bis 2018 eigentlich immer auf Speed, obwohl ich Yoga schon seit 2007 sehr intensiv praktiziere“, erzählt er.
„Spiritualität, die nicht im Alltag ankommt, ist ein Irrweg“
Erst eine Krankheit brachte ihn dazu, die uralten Yogaschriften nicht nur zu studieren, sondern ihre Philosophie ganzheitlich in seinen Alltag zu integrieren. Jetzt ist es ihm ein Anliegen, anderen Menschen diesen Weg zu weisen, denn: „Spiritualität, die nicht im Alltag ankommt, ist ein Irrweg.“
Erde, Feuer, Wasser, Luft und Raum
Allzu akrobatische Übungen braucht bei „Berge & Yoga“ niemand zu befürchten. Einige bekannte Asanas wie den Kopfstand oder den „Pflug“ lehnt Ludwig sogar ab. Stattdessen achtet er darauf, dass die Teilnehmer gut und aufrecht stehen, gleichmäßig atmen und eine „Wohlspannung“ im Körper aufbauen. Mit geschärften Sinnen hören sie zu, wie Ludwig die ayurvedischen Elemente Erde, Feuer, Wasser, Luft und Raum anspricht.
„Das Raum-Element ist für mich das wichtigste“, sagt er, „es steht für Toleranz, also jemandem Raum zu geben, aber vor allem dafür, sich selbst seines Raums bewusst zu werden.“ Dabei nimmt er die Hände über dem Kopf zusammen und breitet sie ganz langsam, raumgreifend, über die Seiten aus.
Das Grundrauschen der Natur
Auf dem Rückweg verlässt Ludwig den Wanderpfad. Auf einem Teppich aus Laub geht es an bemoosten Bäumen vorbei, Farne streifen um die Knie. In der Ferne läuten Kuhglocken, irgendwo raschelt es und knackt.
„Beim Waldbaden vertrauen wir uns dem Baum an und nehmen die Geräusche des Waldes wahr, das immerwährende Grundrauschen der Natur“, erklärt Ludwig und lässt sich zwischen zwei mächtigen Wurzeln nieder: „Das ist für mich der ideale Ort, um zu meditieren!“
Bevor er die Hände faltet und die Augen schließt, fällt ihm noch das passende Goethe-Zitat ein: „Berge sind stille Meister und machen schweigsame Schüler.“ Die Zimbel erklingt, es herrscht Schweigen im Wald.