Motoren, Wasser und Erfinder. Wie sich Dingolfing von einem armen Provinznest zur lebenswerten Industriestadt gemausert hat, lässt sich vor Ort nachvollziehen. Die Erkenntnis: Dingolfing ist keine typische bayerische Stadt
Dingolfing: Die Geburtsstadt des Goggomobils
Die 100 Kilometer vom Oktoberfest in München bis nach Dingolfing können sich schön ziehen, wenn man auf einem Goggo-Roller hockt, vor allem bei Regen. Tropfnass und durchgerüttelt schwört sich Hans Glas, Erfinder und Eigentümer der Glas-Werke, seinem Motorrad ein Dach zu verpassen.
Was ihm in jener ungemütlichen Septembernacht des Jahres 1956 vorschwebt, rollt drei Jahre später vom Band: das erste Goggomobil. Weil man die Kiste mit dem Motorradführerschein steuern darf und sich viele Leute das Goggo, Spitzname „Briefbeschwerer“, leisten können, beschleunigt Hans Glas mit der Produktion seines Kleinstautos die Industrialisierung des bis dahin armen und ländlich geprägten Hügellands in Niederbayern.
Halbes Goggo, halber BMW
So jedenfalls stellt Stefan Füchsl die Erfolgsgeschichte der Automobilindustrie in Dingolfing dar. Aus Landau angereist ist er mit Frau und Kind in einem feschen, feuerroten Glas IV, einem Nachfolger des Goggo. „Ich arbeite als Produktmanager bei BMW“, sagt er stolz und gehört damit zu den 17.000 Arbeitern und Angestellten des bedeutendsten Arbeitgebers der Region.
„Als Oldtimer-Fan habe ich mich um die Lackierungen der ausgestellten Glas-Autos im Museum für Industriegeschichte gekümmert. Im Museum zeigen wir auch ein Goggomobil und einen modernen BMW, die wir beide der Länge nach durchgetrennt haben. Es ist der Hammer, welche technische Entwicklung in den letzten 50 Jahren stattgefunden hat.“
Stadtrundfahrt im Goggomobil
Sein Vater Heribert Füchsl nimmt mich in seinem seegrünen Goggomobil auf eine Stadtrundfahrt durch Dingolfing mit. Ausgangspunkt ist das Hans-Glas-Denkmal in der Neustadt neben einem Gebäude des BMW-Werks. Die Münchner Autobauer haben 1967 die angeschlagene Autofabrik übernommen.
Erfinder Hans Glas, der sich vom Sähmaschinen-Hersteller zum Autokönig von Dingolfing aufschwang, genießt in der Oldtimer-Szene Kultstatus. Man trifft sich in Glas-Klubs, tauscht Erfahrungen und Ersatzteile. Vom Glas-Denkmal geht es mit 13,6 PS über die Isar in die Altstadt von Dingolfing beziehungsweise in das, was Kriege und die Industrialisierung von der gotischen Stadt Tinguluinga übriggelassen haben.
„Zum Glück sind die Fenster vom Goggo klein, sonst schaut der Dackel dir ins Auto rein.“
Wir rumpeln unter der Hochbrücke hindurch, einem imposanten Ziegelbauwerk aus dem frühen 17. Jahrhundert, das obere und untere Stadt verbindet. Es ist gar nicht so einfach, im Vorbeifahren die gewaltigen Pfeiler der Brücke und die historischen Gebäude am Marienplatz, am Speisemarkt und in der Bruckstraße in ihrer ganzen Größe und Pracht zu würdigen. Woran das liegt, beschreibt einer der vielen Schlager, die das Goggo feiern: „Zum Glück sind die Fenster vom Goggo klein, sonst schaut der Dackel dir ins Auto rein.“
Historisches Dingolfing
Schon gar nicht ins begrenzte Sichtfeld passt der 84 Meter hohe Turm der Pfarrkirche St. Johannes. Bis heute beten die Bürger im schönsten spätgotischen Sakralbau Bayerns. Vom Rippengewölbe schwebt seit 1522 ein sieben Meter hohes Kreuz mit dem „Kolossalen Herrgott von Dingolfing“ über den Köpfen der Gläubigen, der an das Kreuz geschlagene Herrgott ist mit seinen 3,80 Meter Höhe von Ehrfurcht gebietender Größe.
Auf einem Bergsporn gründete der bayerische Wittelsbacher Herzog Otto II. 1251 die obere Stadt, in der Unterstadt setzte sich der Bischof von Regensburg fest, wurde aber bald von den Wittelsbachern verdrängt. Von der Stadtbefestigung sind noch ein Stück Stadtmauer, der Storchenturm und der Stinkerturm übrig geblieben. Dreißigjähriger Krieg sowie der Spanische und Österreichische Erbfolgekrieg verursachten schwere Schäden an dem Städtchen, die Bürgerschaft verarmte.
Erst Mitte des 19. Jahrhunderts ging es langsam wieder aufwärts. Zwar fielen der Industrialisierung weitere historische Bauwerke zum Opfer, aber Ingenieure wie Maurus Glas, Urvater der Glas-Werke, schoben die wirtschaftliche Entwicklung mit ihren Erfindungen entscheidend an. All das ist im sehr modern und anschaulich gestalteten Museum für Industriegeschichte zu besichtigen.
Heimweh als Turbo-Ersatz
Die Zweitakter-Abgaswolke riecht ungewohnt, jeden einzelnen Kopfstein des Pflasters auf dem Marienplatz spürt man durch Karosserie und Sitz.
„Immerhin schafft das Goggo 80 Stundenkilometer, mit Heimweh sogar 100“
„Das Holpern liegt an den kleinen Rädern. Trotzdem sind wir mit dem Klub mal an den Gardasee gefahren. Immerhin schafft das Goggo 80 Stundenkilometer, mit Heimweh sogar 100“, scherzt Heribert Füchsl und steuert durch das Wollertor und über den Stadtring in die obere Stadt zur prächtigen Herzogsburg, in der das Museum untergebracht ist, genauso wie das beste italienische Restaurant der Stadt. In der Burg mit dem reich verzierten Treppengiebel stiegen die niederbayerischen Herzöge ab, die Honoratioren der Stadt erhoben dort feierlich die Humpen.
Grusel im Bierkeller
100 Meter weiter serviert man im Wirtshaus „Wirgarten“ deftige bayerische Küche, die man auch im hübschen historischen Salettl genießen kann. „Das hier war ein Franziskanerkloster, es wurde im 17. Jahrhundert im Zuge der Säkularisation aufgelöst“, sagt Armin Huber, Bruder des Eigentümers und Alleskönner. „Bei der Umwandlung in ein Hotel, Restaurant und Biergarten haben wir der Geschichte des Hauses Rechnung getragen und es mit Antiquitäten ausgestattet.“
Alte schmiedeeiserne Türschlösser, etwas düstere, verschnörkelte Möbel, Betten mit gewundenen Säulen, die rüschige Himmel stützen – all das hat Huber zusammengetragen, restauriert oder selbst gebaut, auch eine Eiserne Jungfrau mit extra langen Stacheln, die für Herrenwitze der lustigen Zecher taugt.
Seine persönliche Vorliebe besteht darin, den Leuten bei einer Führung durch knapp 1.000 Quadratmeter modriges Tonnengewölbe aus dem 17. Jahrhundert ein wenig zum Gruseln zu verhelfen. Rostige Kneifzangen und Gummiratte sind dafür die Requisiten, dabei lagerte dort nur ganz harmlos das Bier der Mönche.
Her mit den Isar-Windungen!
Max Wagner ist einer der Menschen, die zum Aufstieg von Dingolfing zur Industriestadt beigetragen haben: 40 Jahre lang stand er als Kfz-Mechaniker bei BMW am Fließband. Als Rentner arbeitet er daran, der Stadt die Isar zurückzugeben. Der Fluss ist Wagners Lebensraum, er engagiert sich im Vorstand des Fischereivereins.
„Was alles in einem Kubikmeter Wasser lebt! Ich bin an und mit der Isar aufgewachsen. Fische begeisterten mich schon als Kind“, sagt er, „jetzt setze ich mich ehrenamtlich für Isar Life ein, ein Projekt des Wasserwirtschaftsamtes Landshut. Das begradigte Flussbett soll Stück für Stück zurückgebaut werden.“
Die Fischer unterstützen die Renaturierung der Isar schon aus Eigeninteresse. „An den neu angelegten Kiesbänken sind Laichplätze entstanden, Kleinstlebewesen finden ihren Lebensraum im flachen Wasser zwischen Kieselsteinchen. In den Auwäldern leben wieder Vögel und Insekten, auch Altwasserarme wurden angelegt,“ berichtet Max Wagner, „wir haben sogar Bruthöhlen für Eisvögel gebaut!“ Er macht einen Abstecher zu einem dieser stillen Gewässer. Weidenäste hängen im Wind, ein Biberbau ragt aus dem Wasser.
Stillsitzen oder Airtricks?
Die Isar trennt die Altstadt von den neu entstandenen Wohnvierteln und den Gewerbegebieten. In Zukunft wird sie die Stadt nicht mehr trennen, sondern bereichern. Schon jetzt freuen sich die Bürger über Badebuchten und die Angler über neue, lauschige Uferabschnitte, an denen sie in Ruhe warten können, bis ein Fisch anbeißt.
Einmal im Jahr, beim großen Fischerfest, ist von Entspannung allerdings keine Rede: Wer Fischerkönig werden will, muss nach stundenlangem, an den Nerven zehrendem Wettangeln Punkt zwölf Uhr mittags den größten und schwersten Fang präsentieren.
Artistische Brettspiele
Wasser spielt schon lang eine wichtige Rolle in Dingolfing, allerdings in gezähmter Form. Aus vielen kunstvoll gestalteten Brunnen sprudelt es, am riesigen Stausee kann man radeln und spazieren gehen, das Erlebnisbad „Caprima“ zieht Besucher aus ganz Ostbayern an.
„Sobald die Eisschollen weg sind und so lange, bis der See wieder zufriert, bin ich hier.“
Junge, sportliche Leute finden Spaß am Wörther See, dort gibt es eine Liftanlage für Wakeboarder. „Wakeboarden ist der Trendsport“, meint Viktoria, die Tochter der Eigentümerin von Waketoolz. Mit ihren 13 Jahren ist die Gymnasiastin eine der jüngsten Nachwuchssportlerinnen und sie meint es ernst: „Sobald die Eisschollen weg sind und so lange, bis der See wieder zufriert, bin ich hier.“
Mit Helm und Rückgratschutz steigt sie in die fest montierten Schuhe auf dem Board, hängt sich in die Liftanlage ein und rast los, mit bis zu 30 Stundenkilometern zieht der Bügel die Extremsportlerin über das Wasser. Sie hebt ab und zeigt uns einige wilde, sogenannte Airtricks. Stillsitzen, wie das die meist älteren Herren beim Angeln tun, ist nicht ihr Ding.