70 Millionen Besucher hinterließen Spuren. Deshalb braucht Schloss Neuschwanstein eine Mammut-Sanierung. Beim Rundgang sprachen wir mit Bauleitern und Restauratoren über die Arbeit in 93 Räumen und an 664 Fenstern und Türen, über Siedegrenzbenzine, Sauberlaufflächen und vorgeföhnte Besucher. Text: Florian Kinast, Fotos: Thomas Linkel
Schloss Neuschwanstein bei laufendem Betrieb renoviert? So geht's
Der Drache musste ordentlich Federn lassen. An den Flügeln ist die Farbe abgeblättert, am ganzen Körper schimmert punktuell der Wandputz durch. Kleine Wunden, Narben aus eineinhalb Jahrhunderten. Durchlöchert wirken die bröseligen Weinblätter daneben, die sich in ihrer geschwungenen Ornamentik nach oben ranken, vergilbt und verdorrt wie im Spätherbst nach einem viel zu trockenen Sommer. Darüber am Zahnfries hat die Zeit ebenfalls sichtbar genagt.
Ramona Proske sitzt 4,5 Meter über dem Boden des königlichen Arbeitszimmers, direkt neben der Wandkunst mit Fauna, Flora, Fabelwesen. Seit Wochen bessert sie die alten abgebröckelten Stellen mit angerührten Trockenpigmenten aus ihrem Farbkasten aus. Die Palette reicht von erdfarbenen Ocker- und Umbra-Tönen über grünes Chromoxid bis zu Ultramarinblau.
All das bekommt die Besuchergruppe nicht mit, die sich unter Ramonas Gerüst aus der Tropfsteingrotte in Richtung Sängersaal schiebt. Wortfetzen des Schlossführers dringen nach oben, man hört zweimal den Namen Ludwig. Dabei fallen Begriffe wie exzentrisch, eigenwillig, Einzelgänger. Dann ist es wieder still. Bis zur nächsten Tour in fünf Minuten.
Neuschwanstein ist nicht nur eine der bekanntesten Touristenattraktionen Deutschlands. Es ist im Moment auch eine gewaltige Baustelle. Gerade erlebt das Schloss von Ludwig II. für 20 Millionen Euro die größte Sanierung in den 150 Jahren seiner Geschichte.
355 Möbel, 65 Gemälde, 5.450 Quadratmeter Wandfläche
Wie umfangreich die Arbeiten sind, zeigen die Zahlen: Zu restaurieren sind 2.329 Objekte sowie 93 Räume mit 184 Wand- und Deckenfassungen. Dazu 65 Gemälde, 355 Möbel, alle 664 Fenster und Außentüren, nicht zu vergessen die 315 Einzelelemente aus Eiche, Kiefer, Fichte. Das ist eine Menge Holz!
Dass Neuschwanstein in seinem Zustand in die Jahre gekommen ist, dass es zwickt und zwackt mit vielen Zipperlein, lag und liegt vor allem an den Besuchermassen. Schon sechs Wochen nach dem Tod von „Kini“ Ludwig II. 1886 waren die ersten Schaulustigen ins Schloss geströmt, bis heute waren es insgesamt über 70 Millionen. In der Hochphase vor Pandemiezeiten kamen 1,5 Millionen Besucher pro Jahr.
Schweiß, Fasern, Streusalzreste
Alle drei bis fünf Minuten schob sich eine Gruppe von sechzig Menschen durch die Säle und Gemächer. Die Besucher brachten nicht nur viel Geld, sondern hinterließen auch Kleidungsfasern, Hautschuppen und mit Schweiß und Atemluft eine Menge Feuchtigkeit im Schloss. All dies setzte mit den Jahrzehnten der Bausubstanz und den Kunstwerken massiv zu.
Schlimmer noch ist es bei Regen und Schnee, Nässe und Dreck. Matsch und Streusalz – selbst an diesem entrückt-erhabenen und so würdevollen Schloss perlt das nicht einfach so ab.
Deswegen haben sie schon im Eingangsbereich nachgeholfen. Heiko Oehme zeigt auf die Sauberlaufflächen, die sie ausgelegt haben: große Abstreifer, an denen Steine und Schmutz hängen bleiben, noch bevor die Besucher die königlichen Gemächer erreichen.
Als einer der zuständigen Baureferenten ist Oehme ein Insider des Mega-Projekts. Er weiß um die Bedeutung der installierten Lüftungsanlagen auf dem Weg zur Ausgabe der Audio-Guides vor dem Start der Tour: „Das hilft“, sagt Oehme, „um die Kleidung der Besucher schon etwas vorzuföhnen.“ Damit sie halbwegs sauber und trocken sind, bevor sie beim König zu Gast sind.
Vor keiner Überraschung sicher
Beim Einbau von technischen Neuerungen sei vieles planbar gewesen, erzählt Oehme. „Bei der Sichtung der Baubestands hingegen wurden wir oft kalt erwischt.“ Ob angesammeltes Wasser, das man unvermittelt hinter alten Säulen entdeckte, oder bis dato unentdeckte morsche Holzbalken unter bunten Terrazzo-Fliesen. „Es gab vieles, womit wir nicht gerechnet hatten“, sagt er. „Man findet ein Überraschungsei nach dem anderen.“
Deutlich sichtbar waren von Anfang an die Schäden im Treppenhaus. Von „runtergenudelten Wandflächen“ spricht Oehme. Er deutet auf die Schäden an den roten und grünen Malereien, wo keine Farbe mehr zu sehen ist, sondern nur noch der Putz. Ursache? Kleidung, Taschen und Rucksäcke, die vieltausendfach beim Gang über die Stufen nach oben und unten die bemalten Mauern entlangrieben. Deshalb haben sie den Handlauf zum Festhalten um einige Zentimeter weiter von der Wand weg montiert.
Gewichtig: 1.000-Kilo-Kronleuchter
Oehme führt hinauf in den nach fünf Jahren Arbeit fertig restaurierten Thronsaal, als imposantester Prunkraum das Herzstück des Schlosses. Das zentrale Meisterwerk im Raum: der eine Tonne schwere, vier Meter hohe Messingleuchter in der Form einer byzantinischen Krone, mit 96 Kerzen, durchsetzt mit böhmischem Buntglas.
Um den Restauratoren die Arbeit zu erleichtern, die Schäden auszubessern und das Metall vom angesammelten Schmutz zu reinigen, wurde der Lüster über eine schon zu Ludwigs Zeiten in der Kuppel eingebaute Kurbelkonstruktion zu Boden gelassen und mit Spanholzplatten eingehaust. Dort gewährten in die Verschalung eingelassene Acrylglasplatten den Besuchern einen spannenden Einblick.
Die Arbeit der Experten am Leuchter, sagt Oehme, sei in all den Monaten eine fast noch größere Attraktion gewesen als der Thronsaal selbst, in dem unter anderem die Bildnisse der zwölf Apostel und sechs heiliggesprochener Könige zu sehen sind sowie eine Treppe aus Carrara-Marmor.
Weitwurfdüsen für gute Luft
Etwas versteckt rechts neben der Apsis sind in gut zehn Meter Höhe die neuen, metallisch glänzenden Weitwurfdüsen, so der Fachterminus für die lautlosen Anlagen zur effektiven Belüftung hoher Räume und großer Säle, angebracht. Demnächst sollen die Aluminiumquader noch eingefärbt werden – damit sie sich ins Gesamtensemble einfügen und nicht so auffallen.
Am Thronsaal lässt sich die Komplexität und die künstlerische Gratwanderung der Sanierungsarbeit exemplarisch gut erkennen. Denn wie Oehme betont, geht es „gar nicht darum, Neuschwanstein in neuem Glanz erstrahlen zu lassen“, weshalb er an diesem Tag gleich mehrmals darum bittet, diese plakative und im Zusammenhang mit der Restaurierung von Medien gern benutzte Formulierung bloß nicht zu verwenden.
Kanten und Macken statt Disney-Beauty
„Wir wollen das Schloss nicht in den Zustand und das Aussehen der 1880er-Jahre bringen, sondern nur die von außen bedingten Schäden beseitigen. Die natürlichen Spuren des Alterungsprozesses wollen wir bewahren.“
„Die natürlichen Alterungs-Spuren wollen wir bewahren“
Neuschwanstein soll sich eben nicht als das aufgehübschte, makellose Disney-Schloss präsentieren, als das es viele Touristen gerne sehen wollen. Es soll ein Schloss sein mit Ecken und Macken, mit Fehlern und Falten. Es geht eben um Restaurierung und nicht um plastische Chirurgie. Man darf Neuschwanstein das lange Leben ruhig ansehen.
Flecken am Sternenhimmel
Bestes Beispiel ist der fleckige Sternenhimmel an der Decke des Thronsaals. Eine Überlegung hätte sein können, die zahlreichen schwarzen Stellen an der nachtblauen Farbe einfach zu retuschieren und zu „begradigen“. Doch die Projektleiter begaben sich auf Recherche, entdeckten alte Fotografien aus der Zeit kurz nach Ludwigs Tod – und sahen dort, dass die dunklen Schatten schon damals zu sehen waren.
Immer tiefer gruben sich die Experten in die Materie und kamen zu dem Ergebnis, dass der König mit großer Ungeduld darauf gedrängt hatte, den Himmel schnellstmöglich fertigzustellen, weshalb die Flecken durch chemische Prozesse bereits bald nach dem überhasteten Auftragen der Farbe entstanden.
„So ist die Fleckigkeit ein historisches Zeitzeugnis für die Eile, mit der Ludwig die Vollendung des Saals vorantrieb“, sagt Oehme, „etwas, was wir im Nachhinein nicht beschönigen wollten.“ Wer mag, kann das angedüsterte Himmelszelt ja auch symbolisch sehen. Für die dunklen Wolken, die für den König am hellen Firmament bereits aufzogen, bevor man ihn für verrückt erklärte und sein Leben im Starnberger See ein Ende fand.
Mit Eintrübungen an Kunstwerken beschäftigt sich in Neuschwanstein auch Stephan Wolf, selbst gelernter Kirchenmaler und inzwischen im Restaurierungszentrum der Schlösserverwaltung Leiter des Fachbereichs 5. Der umfasst polychrome architekturgebundene Fassungen, Stuck, Naturstein, baugebundenes Metall, Malereien. Kurzum, die gesamte Wandrestaurierung.
„Oh, es ist notwendig, sich solche Paradiese zu schaffen (...), wo man auf einige Zeit, die schauderhafte Zeit, in der wir leben, vergessen kann.“
König Ludwig II.
Bauherr von Schloss Neuschwanstein
Kaputtgeputzt
Wolf erzählt, dass nicht nur die Masse an Besuchern für das Schloss schwer zu verkraften war, sondern auch die jahrzehntelange Behandlungsmethodik bei der Instandhaltung, wie er an den Eichenvertäfelungen neben dem Sängersaal im vierten Stock erläutert.
Über Jahrzehnte habe das Personal das Holz mit feuchten Öltüchern gesäubert, sagt Wolf. „Funktionierte auf den ersten Blick ganz gut, dummerweise trocknete das Öl nicht, band dafür Staub und Schmutz. So wurde der Fettbelag mit den Jahren immer dicker.“ Die große Kunst sei nun das filigrane Entfernen der Schmierschicht mit sogenannten Siedegrenzbenzinen.
Man arbeite dabei mit möglichst schwach reagierenden Mitteln. Das soll verhindern, neben dem Schmodder auch die Original-Holzschicht anzugreifen. Nur wenn das nicht helfe, so Wolf, sollte man zu schärferen Lösungstinkturen greifen. Das kleine Einmaleins der Holzrestaurierung!
Wolf führt noch einmal über die verschiedenen Etagen, spricht von den 5.450 Quadratmetern Wandfläche, die es in allen Räumen zu bearbeiten gilt. Von den Methylcellulose-Derivaten, die auch im Tapetenkleister enthalten sind, von wasserlösliche Mischungen aus Trockenpigmenten, die Ramona Proske etwa an ihren Drachen aufträgt.
Es geht um abgebrochene Metallteile an Kandelabern, um abgebrochene Finger von Figuren im Sängersaal, um Risse an den blauen Lapislazuli-Säulen durch die UV-Einstrahlung der Sonne, und um Vogelexkremente, die sie von den Kunstwerken immer wieder mit Wattestäbchen entfernen müssen. Wenn man früher lüftete, dann flatterten schon auch mal die Tauben rein.
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Arbeiten im laufenden Betrieb
Die allergrößte Schwierigkeit? Das sei bei allem Mythos um den Ort Neuschwanstein aus der Sicht des Projektmanagers gar nicht das Objekt selbst. „Es handelt sich um Kunst aus dem 19. Jahrhundert“, sagt Wolf beim Abschied, eher Routine also. Die große Herausforderung sei der Vollzug im laufenden Betrieb, auch wenn derzeit alle fünf Minuten „nur“ maximal 35 Besucher pro Tour durchrauschen.
Neuschwanstein für die Zeit der Restaurierung komplett zu schließen, das würde die Arbeit wesentlich erleichtern. Andererseits würden der Schlösserverwaltung immense Beträge an Eintrittsgeldern entgehen – pro Stunde rund 5.000 Euro.
Und dann, wenn alles fertig ist?
Wie sie nach der Komplettrestaurierung verfahren, ob sie wieder auf sechzig Besucher pro Tour erhöhen, ob sie bei 35 bleiben, ob sie eine Lösung dazwischen finden, das alles ist noch offen. Klar ist auch: je mehr Besucher, desto mehr Einnahmen, aber auch umso höher die Belastung für das Bauwerk und das Kunstensemble. Ein schwieriger Spagat.
Bis Frühjahr 2024 soll die Sanierung abgeschlossen sein, im Moment liegen sie gut in der Zeit. Aber sie finden garantiert noch viele Überraschungseier.