Wohin gehtʼs am Wochenende? „The answer, my friend, is blowing in the wind.“ Nur der Startpunkt steht genau fest: N 48° 56' 47.7852 und E 11° 24' 16.4448, Bayerns geografischer Mittelpunkt. Über die seltsame Erfahrung, ein Wochenende ziellos, aber mit Rückenwind durch Bayern zu radeln
Radfahren mit Rückenwind: Ein Erfahrungsbericht
Die Unterseiten eines Blatts des Haselnussstrauchs sind graugrün. Nur graugrün. Und nicht etwa silbergrün wie bei einer Weide oder gar zart grünlich silbern wie die Unterseite eines Pappelblattes. Aber ehrlich: Um Blattunterseiten habe ich mich nie groß gekümmert. Blätter haben Unterseiten, weil sie auch Oberseiten haben, das geht konstruktionsbedingt eben nicht anders.
Doch heute beweist mir das Graugrün auf den Unterseiten der Haselstrauchblätter, dass wir alles richtig gemacht haben: Ein strammer Südwestwind schiebt meine Begleiterin und mich durch die bayerische Landschaft. So stark, dass er die Blätter umbiegt und ihre Unterseiten nach oben kehrt. So stark auch, dass er die kleinen Staubfahnen hinter den entgegenkommenden Radlern auf dem Kiesweg sofort verbläst. Ein kleiner Gegenanstieg? Kein Problem, wir haben Rückenwind.
Der Plan: Immer mit dem Wind
Genau das ist der Plan: dorthin zu fahren, wohin der Wind uns weht. Und keinen weiteren Plan zu machen. Ist Bayern nicht überall schön? Und ist das effiziente Planen und Vermessen einer Radtour nicht vom selben Geist durchtränkt, der im Job regiert?
Wir überlassen uns stattdessen für ein Wochenende den Launen der Natur. Halten unser Fähnchen eines schönen Freitags in den Wind. Alle zwei Stunden soll das rot flatternde Band ab jetzt aufs Neue bestimmen, wohin die Reise geht. Ohne Hotelbuchung, ohne sportliche Ambitionen und ohne Ziel – aber offen für alles, was uns unterwegs begegnet.
Bayerns Mitte, da sind wir!
Nur der Startort stand fest: Bayerns geografischer Mittelpunkt sollte es sein. Der liegt neben der Burg Kipfenberg oberhalb des Altmühltals, einige Kilometer nordöstlich von Ingolstadt.
Wenn ich es richtig verstanden habe, wurde dieser Punkt als ein Art Schwerpunkt Bayerns ermittelt. Also ungefähr so, als habe jemand Bayerns Umriss aus Sperrholz ausgesägt und dann die Stelle ermittelt, an der Bayern sich auf einer Nagelspitze im Gleichgewicht befindet, ohne beispielsweise in Richtung Bayerisch-Schwaben oder Franken wegzukippen. Geografen können so etwas auch ausrechnen. Das staubt weniger.
Zurück nach Kipfenberg, auf den Findling mit der Infotafel. Drei Meter über der Begleiterin weist das Fähnchen in Richtung 120 Grad, also Ostsüdost, wie der Kompass uns verrät. Die bewährte Komoot-App und eine digitale Landkarte verwandeln die Richtungsanzeige des Kompasses in eine Radstrecke.
Wir falten die Fahnenstange zusammen und überlassen uns der Laune des Windes und der von ihm inspirierten Strecke auf dem GPS-Navi. Welche Wege, welche Dörfer auf der Strecke liegen, wissen nur der Luftstrom und die App. Das verlangt das Konzept, ansonsten wäre die Fahrt kein Abenteuer.
Schotter und Erdbeerkuchen
Als kleines, blaues Dreieck auf dem Navi rollen wir ostsüdostwärts. Links von uns verläuft eine sehr geradlinige Straße, doch unsere Schotterpiste nimmt verschlungene Wege. Sie reitet jede Geländewelle, folgt den Feldrändern von Gerste, Mais und Raps, taucht ab in Wälder und Bachauen.
Ein anstrengendes Routing, aber immerhin mit Rückenwind und mangels Etappenziels völlig ohne Zeitdruck. Nach knapp zwei Stunden liegt ein Supermarkt mit Bäckerei am Weg. So viel Ziel darf sein.
Ein Stück Erdbeerkuchen später steht die zweite Peilung an. Der Supermarkt-Parkplatz erweist sich aber als zickiger Standort: Windwalzen vom Nachbarhaus, die Thermik hoher Mauern, selbst die Luftwirbel der Lkw auf der Hauptstraße lassen den Windwimpel zucken.
Wir einigen uns auf eine Windrichtung von etwa 190 Grad und rollen über Feldwege zu Dörfern, deren Neubauviertel sich hinter Gabionen verschanzen. Weitere Landmarken sind Kindertrampoline, Kugelgrills und geschlossene Gasthöfe, in deren Schaukästen tote Käfer statt Speisekarten liegen.
Buchsbaumbären und Kärcher
Der Rückenwind-Trip ist eine Zufallsstichprobe des ländlichen Bayern, das eben nicht überall aus Maibäumen und Zwiebeltürmen, klirrenden Bierkrügen und Blasmusik besteht. Wie die nächsten Orte heißen? Keine Ahnung. Das regelt die App für uns. Wir folgen ihr gehorsam und sind blind für größere Zusammenhänge, dafür umso dankbarer für alles Neue im Nahbereich.
„Entschuldigung, dürfen wir Sie mal was fragen?“
Ein älterer Herr mäht gerade den Rasen seines gepflegten Gartens. Im Kiesstreifen vor dem hellen Haus formt scharf getrimmter Buchsbaum einen Schwan und einen Teddybären. „Entschuldigung, dürfen wir Sie mal was fragen?“
Wir dürfen. Und erfahren, dass der Busch fast fünf Jahre gebraucht hat, um bis zum Kopf der vorgeformten Schwanenfigur zu wachsen. Und wir lernen, dass der unbeliebte Buchsbaumzünsler („Der schaut aus wie ein dreckerter Kohlweißling“) nur mit einem speziellen Hochdruckreiniger am Verzehr der Büsche gehindert werden konnte. Wie einfach es doch ist, mit Fremden ein freundliches Gespräch am Streckenrand zu führen!
Landshut? Gestrichen vom Wind
Die selbst gewählte Ziellosigkeit ist ungewohnt. Wir wissen nicht, wo wir gerade sind, und würden kaum merken, wenn wir im Kreis fahren würden, weil weder ein markanter Fluss noch die Alpengipfel Orientierung anbieten. Am vorigen Messpunkt sah es kurz so aus, als könnten wir Richtung Landshut kommen – eine schöne Stadt, lange nicht besucht. Doch der Wind verweht unsere Hoffnungen.
Oder geht es zu den fränkischen Karpfenteichen und Bierkellern? Lockende Assoziationen tauchen auf und werden von der selbst gemachten Rückenwind-Spielregel pulverisiert.
Der letzte Messpunkt des ersten Tags liegt in einem bewaldeten Tal und „riecht extrem kräuterig“, wie die Begleiterin schnuppernd anmerkt. Kurz zuvor hatten einige Goldammern, eine schmetternde Lerche und ein Feldhase noch ein wenig Safari-Flair verbreitet, doch jetzt meldet sich der Hunger.
Sich komplett dem Wind zu überlassen, das erscheint auf der Suche nach einem Gasthof gewagt. Wir navigieren lieber zielgerichtet zu Federbett und Abendessen. Ein Ziel, eine Richtung, eine Ankunftszeit – das widerspricht dem Ansatz dieser Reise, ist aber sehr entspannend.
Zweiter Tag: Im Kreis bei Schwachwind
Über Nacht ist der Wind eingeschlafen. Keine Chance, die erste Richtung per Fähnchen zu bestimmen. Doch für Schwachwind haben wir ein Röhrchen Seifenblasen dabei. Fünf Versuche in der Morgensonne und ein Mittelwert: Sie trudeln ungefähr nordwärts.
Also los. Schon bald tauchen auf Wegweisern vertraute Ortsnamen auf. Den markanten Siloturm in Denkendorf haben wir gestern schon einmal passiert, allerdings in der Gegenrichtung ...? Ja, wir sind tatsächlich dabei, im Kreis zu fahren.
Bei aller Freude am Zufall: Zurück auf Start? Wieder runter ins Altmühltal, am Startbahnhof vorbei und dann weitersehen? Als Brettspiel heißt so was „Mensch ärgere dich nicht“. Sorry, aber der Zufall soll uns zu Entdeckungen führen, nicht zu Wiederholungen!
Stockcar-Rennen als Pausenfüller
Die Rettung aus dem Dilemma zwischen Spielregel und Neugier rast im Kreis, ausgerechnet. Bei Irfersdorf steigt eine riesige Staubwolke aus einem Acker, umstanden von Fähnchen und Partyzelten.
Erst unmittelbar hinter dem rotweißen Flatterband wird eine ovale, etwa zwei Meter tief in den Boden gebaggerte Rennstrecke sichtbar. Ein brüllendes Schrottauto driftet mit Maximalgeschwindigkeit heran, wirft mit Dreck um sich, verschwindet um die Kurve und verstummt: „Das war Christian vom Crash-Team Gaimersheim mit einer Vorlaufzeit von 23,9 Sekunden“, erklärt eine Lautsprecherstimme und hinterlässt trotzdem Fragezeichen bei mir.
Meine Nachbarn, drei Jungs mit Bierflaschen, kennen sich aus: „Das ist ein Stockcar-Rennen. Aber heute ist das bisserl fad, das sind nur die Vorläufe. Ihr müsst morgen wiederkommen, dann gehtʼs ab!“
Motorsport mag ich eigentlich nicht. Doch die Vorstellung, dass die 200 herumstehenden Schrottautos morgen im Wertungslauf jeweils zu sechst losrasen werden, um sich wie beim Autoscooter von der Strecke zu schubsen und so auszumachen, wer überhaupt das Ziel erreicht, das hat anarchischen Charme. Wir verbringen eine Stunde bei diesem Opferfest der Verbrennertechnik. Dann hat der Wind auf West gedreht und schiebt uns ostwärts, einmal mehr in Richtung Altmühltal.
Die Schönheitsformel
Was macht eine Landschaft eigentlich „schön“? Michael Roth, Professor für Landschaftsplanung und Informatik, hat das mit seinem Team untersucht. 3.000 Personen haben dafür 10.000 Fotos angeschaut, bevor die Wissenschaftler überzeugt waren: Wasser ist wichtig, auch Fernblicke gelten als attraktiv. Abwechslung, Relief und die Vegetation spielen ebenfalls eine Rolle.
Daher ist es kein Zufall, dass wir auf dem Rest der Reise nur selten allein sind: Auf die Schönheit der Täler von Altmühl, Naab und Schwarzer Laber können sich viele Menschen einigen.
Dass die Täler flach sind, ist im hügeligen Ostbayern ein weiteres Lockmittel. So tummeln sich Radtouristen und -sportler auf dem Marktplatz von Riedenburg, unter den Felswänden von Essing, zwischen den alten Häusern Kelheims und in den Gässchen von Kallmünz.
Ganz offensichtlich schätzt auch unsere Wegweiser-App dieses Netz von touristischen Radwegen. Nur selten schickt sie uns noch zum Abkürzen in die Hügel, zwischen die Maisäcker und durch Gewerbegebiete – und sie hat irgendwie Recht damit, denn dieses Bayern wie aus dem Radler-Bilderbuch ist schmuck und perfekt organisiert.
Vom Biergarten bis zum Bootsverleih wäre alles möglich. Zitroneneis tropft aus der Waffel, auf der Naab walzern winzige Strudel vorbei. Schauen, Sinnieren und Strich drunter: Hätten wir nicht gleich hierherfahren sollen? Vielleicht. Aber dann wäre es eine Radtour gewesen, kein Abenteuer! Und ich hätte niemals Schamhaupten, Breitenhill und den Buchsbaumzünsler kennengelernt.