„Die Berge sind für mich wie Medizin“, sagt Michael Finger, der seit 1997 im Rollstuhl sitzt. Der Oberstdorfer kennt viele Möglichkeiten, die Schönheit seiner Heimat zu genießen: Auf Berggipfeln, an Flussläufen, in Seitentälern
Bergtour barrierefrei?
Im Südosten die Mädelegabel und der Krottenkopf, daneben die Trettachspitze, wegen ihres markanten Gipfels „Matterhorn des Allgäus“ genannt. Gleich drüben die Kanzelwand, der Grenzberg zwischen Bayern und Vorarlberg. Im Westen der Hohe Ifen, weit hinten der Säntis. Im Norden natürlich das Nebelhorn, sein Hausberg.
Der Oberstdorfer Michael Finger kennt sie alle, die Berggipfel, die an diesem kühlen Herbsttag mit ihren verschneiten Felszacken auf den anstehenden Winter einstimmen. Wir treffen Michael Finger am Gipfel des Fellhorn, auf 2.037 Meter Höhe und bei phänomenaler Fernsicht.
„Diese Berge haben etwas Majestätisches“, sagt der 50-Jährige, „diesen Blick kann ich zu jeder Jahreszeit endlos lang genießen.“ Auch wenn es jetzt unter diesen winterlichen Bedingungen natürlich etwas schwerer fällt mit dem Vorankommen. Michael Finger ist querschnittsgelähmt und sitzt im Rollstuhl. Schon fast sein halbes Leben lang.
Er wird an diesem Tag noch viel sprechen über die Herausforderungen, die er zu meistern hat, über die Hindernisse, die es zu überwinden gilt, aber auch über die vielen Wege, auf denen er die Berge und die Natur in und um Oberstdorf genießen kann, die Wege zum Glück.
Michael, das Kind aus Bullerbü
Michael Finger spricht an diesem frühen Vormittag bei einem Cappuccino im Restaurant der Fellhorn-Bergstation auch über seine Kindheit, wie er hier vor allem bei seiner Großmutter aufwuchs. „In einem Paradies, wie bei Astrid Lindgren als Kind aus Bullerbü.“
Mit dem Idyll war’s allerdings vorbei, wenn ihn der Opa mitnahm auf ausgiebige Wanderungen und Bergtouren. „Sechs Stunden und mehr“, sagt Finger, „mit vielen Geschichten über Fauna und Flora und welcher Berg wie heißt. Damals war das entsetzlich fad für mich.“
Wie es manchmal eben so ist bei Kindern, wenn sie sich bei Ausflügen in die Natur fürchterlich langweilen und gern jammern – bevor sie sich später in seliger Verklärung genau an diese Tage zurückerinnern und selbst voller Enthusiasmus in der Bergwelt unterwegs sind, weil die Eltern oder Großeltern damals ein Fundament für das richtige Gespür gelegt und die Tür geöffnet haben, die Tür hinaus in die Natur.
Feuerwehrmann in Berlin
Nach der Schule lebte Finger einige Jahre als Feuerwehrmann in Berlin, kehrte dann mit seiner Frau Gaby zurück nach Oberstdorf. „Weil es eben doch die Heimat war“, sagt er, „weil ich wollte, dass unsere Kinder hier im wunderbaren Allgäu aufwachsen.“ Finger arbeitete als Rettungssanitäter.
Dann kam der 3. Mai 1997. Mit dem Motorrad fuhr er vom Dienst nach Hause, als ihn ein Auto abdrängte und er in die Leitplanke raste. „Ich hatte zwei Verletzungen“, erzählt er, „die Hand war leicht aufgeschürft. Und die Wirbelsäule war durch.“ Dann sagt Michael Finger: „BWK fünf bis acht.“ Kurz für die vier gebrochenen Brustwirbel.
Es geht um Zentimeter: Einsatz für mehr Barrierefreiheit
Jung und unverletzlich habe er sich gefühlt, 26 war er damals. Als er die Beine nicht mehr spürte, nicht mehr aufstehen konnte, dachte er an einen Beckenbruch – das wird schon wieder. Es dauerte, bis er die Diagnose wahrhaben wollte, einmal fällt auch das Wort „Albtraum“.
Doch mit der Zeit akzeptierte Finger sein Schicksal, sein neues Leben im Rollstuhl – und begann seine Heimat mit seiner Gaby und den beiden Kindern Lucas und Zoe neu zu erleben, neu zu entdecken. „Die Berge“, sagt er, „waren für mich wie eine Medizin. Und sie sind es heute noch.“
Kommunalpolitik als Hebel
Michael Finger stieg auch in die Kommunalpolitik ein, zunächst als Kreisrat. Heute ist er Gemeinderat und setzt sich mit großem Engagement für mehr Barrierefreiheit ein im Ort und in der Umgebung.
Ihm fällt ja auf, wenn sich etwa der Eingang zur Bankfiliale immer nur einseitig auf 40 Zentimeter Breite öffnen lässt, wenn die drei Treppen zur Wirtshaustoilette unüberwindbar werden. Wenn Türen zu eng sind und Stufen zu hoch.
Gerade in den vergangenen zehn Jahren, sagt Finger, habe sich in Oberstdorf enorm viel getan. Ferienwohnungen und Hotels, Gasthäuser und Cafés, Jugendherbergen und Freizeiteinrichtungen, immer mehr Betriebe rüsteten um und erhielten die Kennzeichnung „Reisen für alle“, das bundesweite Siegel für Qualität und Komfort im Bereich Barrierefreiheit.
Starke Bremsen gefragt
Aber natürlich gibt es noch immer zu tun. Aufmerksamkeit schaffen und sensibilisieren, gerade für vermeintlich unscheinbare Hindernisse, die von Nicht-Behinderten gar nicht als solche gesehen werden.
So wie etwa die Schwelle beim Ein- und Ausstieg in die große Kabine der Fellhornbahn. Für Fußgänger kaum als Stufe wahrnehmbar. Für Rollstuhlfahrer wäre es ohne die Rampe, die der Gondelfahrer für Michael Finger nun auslegt, eine große Herausforderung.
Bei der Fahrt ins Tal ein Blick aus dem Fenster. Michael Finger deutet auf den asphaltierten Serpentinenweg, über den er im Sommer von der Bergstation gern bergab ins Tal rollt – und wo es, wie er sagt, vor allem auf gute Bremsen ankommt.
Ringsherum das Areal der Allgäuer Hochalpen, das größte Naturschutzgebiet Schwabens. Finger spricht vom Habitat der hiesigen Fauna. Zu der gehören auch Alpensalamander und Raufußhuhn, nicht zu vergessen die seltene Waldbirkenmaus.
Umweltschutz als Anliegen
Der Erhalt der Natur, der Schutz der Umwelt, auch dafür setzt sich Michael Finger seit Jahren ein, wie er wenig später erzählt, als er uns auf seine Lieblingsstrecken mitnimmt.
Zunächst auf die Rubi-Runde, den Wanderweg zum Ursprung der Iller, die aus dem Zusammenfluss von Breitach, Stillach und Trettach entsteht und die am Anfang ihrer 147 Kilometer Richtung Norden zur Donau so unaufgeregt weiterplätschert, als wolle sie gleich von Beginn an dokumentieren, warum sie so heißt, die Iller: als Ableitung vom lateinischen Wort „hilaris“ für freundlich, heiter.
Tipp für Rollstuhlfahrer: Vormittagsweg der Rubi-Runde
Die sieben Kilometer lange Rundtour von Oberstdorf über Illerursprung nach Rubi und zurück ist ein Klassiker unter den Wanderwegen der Gegend. „Der Vormittagsweg“, wie man laut Finger das erste Teilstück am Trettachdamm früher schon gern nannte. Weil man hier ab dem Morgen entlangging, um dann zum Mittagessen in Rubi einzukehren. „Auch für uns Rollstuhlfahrer eine sehr gemütliche Strecke. Das Richtige für einen kleinen Ausflug, wenn man mal kurz raus will.“
Härtetest im Oytal: Bis zu 16 Prozent Steigung
Manchmal mag es Michael Finger anspruchsvoller, hinter ins Oytal etwa, eines der grandiosen Seitentäler von Oberstdorf. Der erste Kilometer ab der Skisprungschanze, dem alljährlichen Austragungsort des Auftaktspringens bei der Vierschanzentournee, hoch zum Café Kühberg, mit einer Steigung von bis zu 16 Prozent.
„Das hat’s schon in sich“, sagt Finger, am besten empfehle sich für diese erste Etappe ein Taxi. „Auf dem weiteren Weg hinter zum Oytalhaus geht es meist eben über Asphalt“, sagt er.
„Es gibt ja so viele schöne Touren, bei uns und für uns.“ Oben etwa der Panoramaweg auf dem Nebelhorn oder auch die kleine Runde vom Oberstdorf-Haus entlang des Dammwegs der Stillach zum Karatsbichl.
Meditation in der Spielmannsau
Zu einem ganz besonderen Lieblingsort führt Michael Finger als letztem Höhepunkt des Tages. Sieben Kilometer südlich von Oberstdorf geht es durch das Trettachtal nach Spielmannsau, wo die Sonne an diesem Spätoktobertag nach ihrer flachen Kurve über Kratzer und Wildengundkopf schon am frühen Nachmittag hinter dem Einödsbergegg entschwunden ist.
Dort, wo sich das Gebirgstal nach einigen knackigen und kurzen Steigungen auf der geteerten und für den öffentlichen Verkehr gesperrten Straße öffnet, liegt für Michael Finger sein ganz persönlicher Wohlfühlplatz: „Es hat hier immer etwas Meditatives."
Hinauf auf den Berg könne er überall dort gelangen, wo die Gipfel durch Bergbahnen erschlossen seien – wie am Vormittag am Fellhorn. Oder auf Kanzelwand und Walmendingerhorn. Oder seit dem Umbau der neuen Seilbahn auf das Nebelhorn. „Und wenn es eben nicht geht, dass ich auf dem Berg bin“, sagt Finger an diesem späten Nachmittag in Spielmannsau, „dann bin ich so wie hier wenigstens am Berg. Und auch das ist ein wunderschönes Erlebnis.“
„Manchmal“, sagt er zum Schluss noch, „sitze ich einfach nur eine Stunde da, schließe die Augen, höre das Rauschen des Bachs und verspüre eine tiefe innere Ruhe.“ Ein großes Glücksgefühl. Grenzenlos, schwerelos.
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