Wenn es in Kirchen knistert, im Bergwerk nach Pferdestall riecht und am Markt nach der großen, weiten Welt. Wie die von Geburt an blinde Franziska Sgoff Münchens Sehenswürdigkeiten wahrnimmt, ohne etwas zu sehen
München mit Hindernissen
Am Nachmittag, am Ende eines langen Spaziergangs quer durch die Stadt, bleibt Franziska Sgoff noch einmal stehen. Zwei, drei Minuten lang. Ganz ruhig. Ganz bei sich.
Links von ihr ein Stand mit Gewürzen. Es duftet exotisch, nach weiter Welt: nach Anis und Zimt, Liebstöckel und Lavendel, Kardamom und Koriander. Gleich daneben Holzbottiche mit eingelegten Gurken, Oliven, Antipasti.
An der Sekt-Bar hinter dem Geschenkestand mit den selbst gemachten Nelkenkränzen klirren Gläser. Ringsherum murmelt polyglottes Stimmengewirr von Einheimischen, Zugereisten und Touristen durch die Luft, hoch droben schwingen sich die Glocken vom Alten Peter zum Vier-Uhr-Läuten auf.
Urbanes Grundrauschen. München, wie es klingt und kracht. Manche Menschen sind in Eile, hektisch hasten sie vorbei, Franziska Sgoff aber hält inne und lässt das alles auf sich wirken. „Das ist so schön hier, so schön“, sagt sie mit einem Lächeln, beseelt und beglückt in diesem wirren Durcheinander an Gerüchen und Geräuschen. Hier am Viktualienmarkt, diesem Schmelztiegel der Sinneseindrücke, wo sie die Stadt ganz besonders intensiv spürt. Franziska Sgoff ist von Geburt an blind.
Wenn München nur duftet und klingt
Der Rundgang an diesem Tag beginnt viele Stunden zuvor, halb zehn am Marienplatz, Treffpunkt Fischbrunnen. Ein Tag, an dem die 24-Jährige uns auf einer überaus außergewöhnlichen München-Tour vermittelt, wie sie die Stadt mit ihrer Einschränkung wahrnimmt.
Wie sie Sehenswürdigkeiten empfindet, ohne etwas zu sehen. Wie sich München anfühlt, jene Stadt, die von sich so gern sagt, dass sie leuchtet. Und die für sie einfach nur duftet und klingt und deren Sinnesreize so viele geheimnisvolle Facetten bergen.
Ausflüge nach München sind für Franziska noch immer etwas Besonderes. Nur selten kommt sie in die Stadt, sie lebt im Haus ihrer Eltern in Attaching, einem Dorf südlich von Freising.
Von dort arbeitet sie im Home-Office für einen der weltweit führenden Technologie-Konzerne, entwickelt Konzepte, um Menschen mit und ohne Behinderungen ein inklusives und barrierefreies Zusammenarbeiten durch Technologie zu ermöglichen.
Zeitgeist-Hindernis: E-Scooter
Aber wie barrierefrei ist die reale Welt, wenn sich Franziska mit dem weißen Blindenstock ihren Weg durch die Großstadt bahnt? Schon nach wenigen Minuten lauert in der Burgstraße die erste Stolperfalle: ein mitten auf dem Gehsteig abgestellter E-Scooter.
Lästig für Sehende, wirklich gefährlich aber vor allem für Blinde, die sich mit ihrem Stock an Hausmauern und Bordsteinkanten orientieren und die oft auch mit ihrem Arm an den herausstehenden Lenkergriffen hängenbleiben.
"Diese wild geparkten Gefährte sind eine echte Plage“
„Für Menschen wie mich sind in der Stadt diese wild geparkten Gefährte zu einem der größten Hindernisse geworden, eine wirkliche Plage“, sagt Franziska, bevor sie sich kurz darauf in der Burgstraße 4, dem Sitz des kommunalen Behindertenbeauftragten, mit ihren Fingern durch einen taktilen Stadtplan mit den Straßennamen und Attraktionen in Braille tastet.
Schon als Kind habe sie das geliebt, sagt sie, über ihren Globus in Reliefform und durch den Atlas in Blindenschrift auf Weltreise zu gehen. Nun fühlt sie München, die Residenz, den Rindermarkt, den Hauptbahnhof. „Und hier“, sagt sie, als sie über eine kleine Fläche nordwestlich des Marienplatzes fährt, „ist die Frauenkirche.“
Der „Dom zu Unserer Lieben Frau“ ist unsere nächste Station. Während wir sie über die Kaufinger Straße ansteuern, filtert Franziska aus der Geräuschkulisse plötzlich einen weit entfernten Straßenmusiker heraus. „Ach, da vorne, ein Akkordeonspieler.“ Für ihre sehenden Begleiter wird der Quetschn-Virtuose erst viele Meter weiter hörbar. Und noch später sichtbar.
Der Duft von Weihrauch, der Klang von Liederbüchern
In Kirchen fühle sie sich schlagartig immer in einer ganz eigenen Welt, meint Franziska, als wir durch die massive Eingangstür den Dom betreten. Der plötzliche Wechsel der Umgebung, des Geräuschniveaus und der Gerüche. „Der gedämpfte Widerhall flüsternder Menschen, der Duft von Weihrauch und von Kerzen, das ist für mich ein sehr vertrautes Gefühl, ein Gefühl von Geborgenheit“, sagt sie.
Als Kind habe sie selbst ministriert, in der Pallottinerkirche in Freising. Fasziniert war sie damals vor allem immer dann, wenn die Kirchenbesucher die Liederbücher hervorkramten und sich auf der Suche nach der angezeigten Nummer durch den Band blätterten. „Dieses Knistern des alten Papiers, dazu der Geruch des Einbands und der Seiten, das war immer sehr wohlig und vertraut.“ Wie vielseitig Liederbücher doch sein können. Zum Singen, zum Rascheln, zum Riechen.
Tastmodell, Teufelstritt, Kopfkino
Zum Berühren und zum Anfassen gibt es im hinteren Bereich noch ein Tastmodell der Frauenkirche. Mit ihren Händen fühlt Franziska die beiden Türme mit ihren Kuppeln, die Dachschrägen, die Eingangstüren, wenig später spürt sie mit ihren Füßen die kleine Senke im Fußboden und hört dann die Geschichte, was es damit auf sich hatte.
Die Geschichte vom berühmten Teufelstritt, die es in verschiedenen Versionen gibt und die immer damit endet, dass der Teufel an genau dieser Stelle wutentbrannt aufstampfte, weil er die Seele des Baumeisters nicht bekam, und zurück in sein infernalisches Höllenreich eilte.
Andächtig lauscht Franziska der Legende. Es ist einer jener Momente an diesem Tag, in dem es gar keine Rolle spielt, ob man blind ist oder nicht. Es ist nicht anders als bei Sehenden, wenn sie Geschichten und Märchen erzählt bekommen und dadurch ganz eigene Bilder kreieren, eigene Vorstellungen und Fantasien. Kopfkino für alle. Einfach nur die Augen schließen.
Nächste Station: Deutsches Museum
Viel zum Zuhören wartet wenig später im Deutschen Museum mit seiner Musikabteilung und seinen einzigartigen, historischen und heute mitunter kurios anmutenden Instrumenten. Das selbst spielende Disklavier etwa, an dem Franziska, die mit sieben Jahren selbst Klavier lernte, nun spürt, wie sich bei Beethovens „Für Elise“ die Tasten ganz von alleine auf- und abbewegen. Oder das Symphonion, ein Musikautomat aus dem Jahr 1910, eine überdimensionale Spieluhr mit einsetzbaren Walzenrädern.
Als Franziska mit ihren Fingern über die Perforationen in den Scheiben fährt, sagt sie schmunzelnd: „Fühlt sich an wie Brailleschrift.“ Eine versteckte Botschaft, ein Geheimcode gar? „Nein“, erklärt sie nach kurzem Studium, „einfach nur Löcher in einer Metallplatte.“
Bergwerk: Geruch von Schwefel, Salz und Pferdestall
Zwei Etagen tiefer in der großen Schifffahrtsabteilung. Schulklassen rumpeln durch die riesige Halle, Kinderlachen, lärmendes Echo. Der Widerhall ist weit weniger gedämpft als in der Frauenkirche. „Hell, freundlich, laut, der typische Sound eines Museums“, sagt Franziska, als sie wenig später bemerkt, es rieche auf einmal so nach Stahl, nach Öl. Weshalb? Weil man einen Raum weiter ist. In der Kraftmaschinenabteilung, zusammen mit Sandra Kittmann, die im Deutschen Museum für die Barrierefreiheit zuständig ist.
Allein die Akustik verrät, wie eng es ist
Sandra Kittmann nimmt sie mit auf eine ganz besondere Erkundungstour: hinab ins berühmte Bergwerk – die größte Herausforderung des Tages, über die vielen Stufen auf und ab, über Schienenschwellen im Boden und unter niedrige Decken hindurch. Allein die Akustik verrät ihr, wie nah die Wände sind, wie eng es ist.
Franziska nimmt wahr, wie es nach Kohle riecht, später nach Schwefel, dann nach Salz und schließlich auch nach Stall – just an der Stelle, wo der Rastplatz für die Grubenpferde gezeigt wird, die zum Ziehen von Förderwagen untertage geschickt wurden. Eine eigene Welt der Sensorik, tief unter der Erde.
Blumen-, Currywurst- und Papierduft
Zurück an der frischen Luft durchbricht erstmals an diesem Tag die Sonne die Wolken und Franziska genießt auf der Boschbrücke die wärmenden Strahlen auf ihrem Gesicht. Allmählich geht es wieder zurück in die Münchner Innenstadt. Über den Gärtnerplatz mit seinen vielen bunten, duftenden Blumen rings um den Springbrunnen führt der Weg Richtung Stadtmitte durch die Reichenbachstraße, wo sich ein Geschäft an das andere reiht. Und damit auch ein Sinneseindruck an den nächsten.
Immer wieder bleibt Franziska kurz stehen und spricht von ihren Wahrnehmungen. Über den Geruch von Papier, als wir an einem Buchladen vorbeischlendern. Über frisch gemahlene Bohnen an einem Café. Über den Duft von Ketchup und scharfer Soße. Neben ihr isst ein Mann im Schanigarten der „Deutschen Eiche“ gerade eine Currywurst mit Pommes.
Lieber Lärm als Stille: Geborgen im Geräusch der Großstadt
Auf dem Viktualienmarkt, bei einem Glas frisch gepresstem Orange-Ananas-Saft, erzählt Franziska, wie geborgen sie sich fühle in dieser Atmosphäre. Dass sie München wahrlich nicht als einen abweisenden Moloch empfinde, sondern dass sie sich gut an den Geräuschen und Gerüchen orientieren kann. Und wie bedrohlich ihr stattdessen die Stille vorkomme. Einmal, sagt sie, habe sie in einem Kloster an einer Schweigerunde teilgenommen. „Eine der beklemmendsten Erfahrungen meines Lebens.“
Am Marienplatz endet die Tour, zum Ausklang gibt es Schlag 17 Uhr das Glockenspiel mit den tanzenden Schäfflern am Rathaus. Ein harmonischer Ausklang eines beeindruckenden Tages, an dem Franziska sagt, jetzt würde sie nach diesen vielen neuen Erfahrungen und Entdeckungen München ganz anders wahrnehmen. Mit einem ganz neuen Blick …
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