Es müssen weder der „Camino de Santiago“ noch Glaubens-Gründe sein: Warum nicht mal ins Pilgern hineinschnuppern auf historischen Jakobswegen in Bayern. Besonders schöne Abschnitte führen durch das Allgäu, findet Anja Keul
Schnupper-Pilgern
Schritt für Schritt den Alltag hinter sich lassen. Hören, wie der Wind die Blätter flüstern lässt. Den letzten Hügel überwinden, wenn die Beine schon schwer sind. Und ankommen in der Pilgerherberge, erschöpft, aber glücklich. Am Abend: gute Gespräche mit Menschen, die einem nicht fremd sind, weil sie denselben Weg gehen.
„Die meisten haben ein Thema im Rucksack, wollen ihrem Leben eine neue Richtung geben“, sagt Herbergsvater Werner Schroth über die Gäste, die oft an einem Abend zu Freunden werden: „Wer pilgert, beschäftigt sich ernsthaft mit sich selbst und öffnet sich auch den anderen.“
Jakobsweg in Bayern: 290 Kilometer in 12 Tagen
Schroth weiß, wovon er spricht. Als er mit 63 in den Ruhestand ging, begann der Ex-Manager zu pilgern, wanderte den mehr als 800 Kilometer langen Hauptweg „Camino Francés“ nach Santiago de Compostela in Spanien entlang, aber auch Varianten in der Schweiz und in Portugal.
Und die rund 290 Kilometer, die in ungefähr zwölf Tagesetappen von München nach Lindau führen – vorbei am Kloster Andechs, der Wieskirche und der spätgotischen Stephanskapelle in Genhofen mit ihren rätselhaften, volkstümlichen Wandmalereien.
Vor ein paar Jahren wurde in der Pilgerherberge Scheidegg eine helfende Hand benötigt. Schroth sprang ein und übernahm das Quartier 2015 als Herbergsvater. „Der Jakobsweg hat mir den Weg gewiesen“, sagt der agile Hobbykoch. Jeden Abend steht er für seine Gäste am Herd und zaubert mediterran inspirierte Gerichte mit viel Gemüse. „70 Prozent unserer Pilger sind weiblich, es sind viele Vegetarier darunter.“
Keine Glaubensfrage: Die meisten laufen allein
Das Faible für Statistik ist vielleicht seinem früheren Berufsleben geschuldet. Schroth referiert weiter: „Zwei Drittel der Pilger sind zwischen 45 und 60 Jahre alt, die meisten laufen allein.“
Nur rund zehn Prozent gehen den Jakobsweg aus christlich-spirituellen Gründen, der Rest suche einen Weg zu sich selbst, wolle aus verkrusteten Strukturen ausbrechen, sich über Wünsche und Ziele im Leben klar werden und das Gefühl von Freiheit spüren. Und am Abend in der Pilgerherberge Gemeinschaft erleben: An der langen Tafel sitzen alle zusammen und tauschen sich über ihre Pilger-Erlebnisse aus, bevor es in die einfachen Stockbetten geht – in drei Räumen finden 18 Pilger einen Schlafplatz.
Der Weg ist das Ziel. Ruhe statt Reizüberflutung
Nebenan lädt die schlicht-schöne evangelische Kirche mit einem Bodenmosaik zur Meditation ein. In kleinen Schritten führt es auf Umwegen zum Mittelpunkt eines Labyrinths und symbolisiert dabei das Motto des Pilgerns: Der Weg ist das Ziel. Bei Wind und Wetter.
Mit jedem weiteren Tag, den es über Berge und durch Täler geht, spiegelt sich das Leben mit all seinen Höhen und Tiefen. Ruhe statt Reizüberflutung. Das Handy bleibt aus. Raus aus der Komfortzone, jede Nacht ein anderes Bett. Vor allem am Anfang tun die Füße weh, der Rücken schmerzt. Schließlich trägt man alles, was man braucht, im Rucksack mit sich, an dem die Jakobsmuschel als Pilgersymbol baumelt.
Pilgers Liebling: Breitwegerich gegen Wasserblasen
Mit der Zeit weitet sich der Blick. Die Natur bekommt mehr Kontur. Manch eine Pflanze, die man normalerweise unbeachtet ließe, entpuppt sich als verlässlicher Helfer aus „Gottes Apotheke“. Etwa Breitwegerich, der rund ums Jahr am Wegesrand wächst: Zwischen Fußsohle und Socken platziert, verhindern die Blätter Blasenbildung oder können beginnende Blasen lindern.
Zerriebene Blätter des Spitzwegerichs helfen bei Insektenstichen. „Der sekundäre Pflanzeninhaltsstoff Aucubin wirkt antibakteriell und entzündungshemmend“, weiß Natur- und Landschaftsführerin Christine Giera. Im Herbst empfiehlt sie, das Mark von weichen, vollreifen Hagebutten auszudrücken: „Zwei davon decken den kompletten Vitamin-C-Bedarf des Tages.“ Die Kräuterkundigen im Allgäu kennen noch viele weitere Helfer aus der Natur und teilen ihr Wissen gern mit den Gästen.
Kapellenweg: 22 Kilometer Schnupperpilgern
Wer nicht gleich „ernsthaft“ pilgern möchte, kann in Scheidegg den rund 22 Kilometer langen, jederzeit abkürzbaren „Kapellenweg“ gehen, der rund um den Ort Scheidegg an 13 kleinen Gotteshäusern und weiteren Stationen entlangführt.
Von Mai bis Oktober besteht an jedem ersten Samstag im Monat die Möglichkeit, gemeinsam mit anderen ins kontemplative Wandern hineinzuschnuppern. „Stille und Entspannung sind uns wichtiger als Sonne“, sagt der engagierte evangelische Pfarrer Uwe Six, der in Scheidegg oft als Pilgerbegleiter dabei ist.
Spirituelle Impulse
Auch Ambros Häring, der Vorsitzende des katholischen Pfarrgemeinderats, leitet häufig das Schnupperpilgern in Scheidegg – auf die ökumenische Zusammenarbeit ist man stolz. An den Kapellen geben die Pilgerführer spirituelle Impulse: Anregungen zu Fragen des Lebens, aber auch viele Bibelzitate, die man sich während des Wanderns durch den Kopf gehen lassen kann.
Zum Beispiel diesen Spruch des Schweizer Pfarrers Kurt Marti: „Wo kämen wir hin, wenn alle sagten ,Wo kämen wir hin‘ – und niemand ginge, um einmal zu schauen, wohin man käme, wenn man ginge.“ Die Jakobspilger würden darauf vermutlich antworten: „Weit weg, aber letztlich zu dir selbst.“
pilgerzentrum-scheidegg.de
Pilgern in Bayern: Facts & Figures
Pilgerwege gibt es in ganz Bayern, darunter allein acht Haupt-Jakobswege, die das Grab des Apostel Jakobus im spanischen Santiago de Compostela zum Ziel haben. Manche Pilgerwege starten im Norden Bayerns, von Franken aus.
Andere nehmen ihren Anfang in Ostbayern, fast schon an der Grenze zur Tschechischen Republik. Aber auch im südwestlichen Bayern beginnen Pilgerreisen. Dreieinhalb Monate zu Fuß oder ach 40 Tage auf dem Bike dauert eine derartige spirituelle Wanderschaft bis an die spanische Atlantikküste.
Jenseits der Jakobswege
Es gibt auch Pilgerwege jenseits der Jakobsrouten. Ein dichtes Netz an Pilgerwegen durchzieht beispielsweise das Passauer Land. Allen voran die Via Nova, die 300 Kilometer weit durch Niederbayern führt. Die Ammergauer Alpen haben den 87 Kilometer langen Meditationsweg aufzuweisen.
... im Allgäu
Kloster Bad Wörishofen
An dem Ort, an dem Pfarrer Kneipp seine Lehre von der Heilkraft des Wassers maßgeblich entwickelte, ist heute die „KurOase im Kloster“ untergebracht. Natürlich werden in dem ehemaligen Dominikanerinnenkloster Kneipp-Kuren angeboten. Nebenan leben immer noch einige Schwestern, die gern mit den Gästen ins Gespräch kommen und sie auch zum täglichen Chorgebet einladen.
kuroase-im-kloster.de
Abtei Ottobeuren
Im Gästehaus der Benediktinerabtei mit ihrer prachtvollen spätbarocken Basilika können Frauen wie Männer „Tage der Stille“ erleben und dabei gern am Chorgebet der Mönche teilnehmen. Auch begleitete Einzelexerzitien sind möglich.
abtei-ottobeuren.de
Kloster Roggenburg
Vom Familien-Umwelt-Nachmittag bis zum Acrylmalerei-Workshop reicht die bunte Palette des Bildungsangebots, übernachtet wird im Hoteltrakt des Klostergarhofs. Im Zuge der 2017 beendeten Generalsanierung des Prämonstratenser-Chorherrenstifts wurden auch die Klostergärten neu angelegt. Der Meditationsgarten mit Efeu-Labyrinth steht allen Besuchern offen.
kloster-roggenburg.de