Unser Reporter nahm bei Reit im Winkl den Premium-Winterwanderweg von der „Hindenburghütte“ zur Hemmersuppenalm unter die Stiefel. Fazit: Bei arktischen minus 20 Grad knirscht’s am schönsten. Text und Fotos: Norbert Eisele-Hein
Winterwandern im Chiemgau
Es ist klirrend kalt so früh am Morgen. Das Quecksilber verharrt bei minus 20 Grad. Der Schnee unter unseren Wanderschuhen knirscht fast schon metallisch. Auf den Heustadeln hat die weiße Pracht märchenhafte Wattebäusche geformt. Dort, wo der Wind ein wenig modellieren durfte, bildeten sich regelrechte Elvis-Tollen aus rein-weißem Pulver. Die tief verschneiten Tannen mit ihren ausladenden Ästen sehen aus wie Michelin-Männchen im Wintermantel.
Zum Auftakt entspannte 50 Höhenmeter
Nur wenige Minuten führt der Anstieg von der „Hindenburghütte“ auf 1.200 Meter Höhe durch dichten Wald. Schon bald irrlichtern erste Sonnenstrahlen durchs Dickicht und zeichnen wilde Schatten auf den glitzernden Schnee. 50 Höhenmeter später erreichen wir die lichte Hochfläche und stoßen gleichzeitig aus dem Wolkenmeer.
Die Inversionslage macht es möglich. Der malerische Chiemgau liegt uns zu Füßen, scheint komplett in Watte gepackt. Im Nu steigen die Temperaturen. Unsere Atemwölkchen explodieren förmlich in den Sonnenstrahlen, die sich über das Fellhorn und die Eggenalm kämpfen.
3-D-Wintermärchen
Die Bodenwellen der Hemmersuppenalm wurden vom Wind kunstvoll ausmodelliert, Geländekanten wie von Zuckerbäckerhand mit verspielten Wächten verziert. Riesige Schneekristalle funkeln im Gegenlicht. Von wegen Hemmersuppe – vor uns liegt ein dreidimensionales Wintermärchen.
Winterwandern im Reich des Weißen Germer
„Ja, so eine Hemmersuppe“, entfuhr es den Bauern aus dem Tal früher spöttisch beim Anblick der weitläufigen Alm hoch über Reit im Winkl. Ist der Hemmer, auch Weißer Germer genannt, doch ein arges Unkraut: Knapp kniehoch ist Veratrum album selbst für einen hartgesottenen Kuhmagen ungenießbar.
Nach starken Regenfällen bilden sich in den vielen Mulden der sanft gewellten Hochalm noch dazu große Pfützen, die in Bayern gern mit dem Ausspruch „A so a Supp’n“ bedacht werden. Früher gestattete die tägliche Mühsal der Almbauern nur selten einen schwärmerischen Blick auf die paradiesische Landschaft und so wurde der Spott zum Namensstifter.
Die sechs Kilometer lange Panoramarunde rund um die Hemmersuppenalm trägt das Siegel „Erster Premium-Winterwanderweg Deutschlands“. Schon nach wenigen Windungen wird klar, was Premium bedeutet. Der stets geschwungene Weg zersägt das Panorama nicht, sondern offenbart es ganz vorsichtig. Die majestätische Landschaft und das umgebende Gipfelrund der Bayerischen Alpen fühlen sich nicht erobert, sondern geschmeichelt. Die goldene Krone auf den Wegtafeln hat sich der Weg verdient.
Winterwandern im Powder
Was macht in den Augen des Deutschen Wanderinstituts einen Winterwanderweg zum Premium-Winterwanderweg? Der Zertifizierung liegt ein umfangreicher Kriterienkatalog zugrunde. „Wegeformat, nutzerfreundliche Beschilderung, Landschaftsbild, urige Gasthäuser, kulturell Interessantes, aber auch mögliche Lärmemissionen, da kommt alles auf den Prüfstand“, weiß Florian Weindl, Leiter des lokalen Tourismusbüros.
Dabei gilt Reit im Winkl ohnehin als amtlich verbrieftes Schneeloch. Im meteorologischen Fachjargon: „Das Phänomen der Kaltluftseen“ sorgt für vermehrten Schneefall. Der Maserer-Pass bildet im Winter häufig die Grenze. Diesseits dominiert Grün, jenseits im Mikroklima von Bayerisch Sibirien müssen Wintersportler für die letzten 10 Kilometer Schneeketten aufziehen und es herrscht Powder-Alarm auch für Winterwanderer.
Seit Rosi Mittermaier 1976 bei der Olympiade in Innsbruck jede Menge Edelmetall abräumte, sind die Winklmoosalm und Reit im Winkl ohnehin ein fester Begriff im Wintersport.
Überhaupt scheint das beschauliche Dorf ein guter Nährboden für sportliche Höchstleistungen zu sein. Evi Sachenbacher-Stehle, die beim Langlauf- Teamsprint olympisches Gold in Vancouver holte, ist auch ein Kind Reit im Winkls.
Gewalzt für bequemes Winterwandern
Der Weg wird täglich mit einer Pistenraupe gewalzt. Mit festem Schuhwerk und ein paar Wanderstöcken lässt sich die Runde sogar nach massiven Neuschneefällen problemlos meistern. Entlang der Route ragen Latschenbüsche aus dem Schnee. An ihnen demonstrieren Wind, Schnee und Frost, wie kreativ sie gestalten.
Halleluja, was für ein Panorama!
Bei der Sankt-Anna-Kapelle haben wir beinahe die Hälfte unserer Winterwanderung hinter uns. Das schmucke Kirchlein wurde 1905 von Almbauern errichtet und thront fast kitschig auf einem Vorsprung. Eine kleine Brotzeit auf der Holzbank davor füllt den Akku nicht nur physisch wieder auf. Dort oben offenbart sich ein überwältigendes Panorama.
Ein schlagkräftiges Argument bei der Verleihung des Wander-Oscars
Im Vordergrund liegen die Winklmoosalm, das Sonntagshorn (mit 1.961 Metern der höchste Gipfel der Chiemgauer Alpen) und das Schumacherkreuz, direkt dahinter baut sich das Who is who der Berchtesgadener Alpen auf. Allen voran die Platzhirsche Watzmann, Hochkalter und Reiter Alm. Optischer Balsam für die Seele, da läuft nebenbei und ganz automatisch ein herrliches Entschleunigungsprogramm unter der Wollmütze.
Der Weg schmiegt sich an kleinere steile Waldflecken und bietet Familien mit Kindern noch einige Schlittenhänge. Zurück auf der „Hindenburghütte“ zieht uns der Duft von frischem Braten in die urige Stube. Spätestens nach dem leckeren Milchrahmstrudel, den das Küchenteam täglich frisch im Holzofen bäckt, wird klar, dass diese Hütte ein schlagkräftiges Argument bei der Verleihung des Wander-Oscars war.
Deutschlands längste Rodelstrecke
Hüttenwirt Günter Dirnhofer, ein Schrank von einem Mann, kümmert sich täglich um die Präparation des Premiumwegs. Dazwischen shuttelt er die Gäste mit seinem Allradbus von Reit im Winkl hoch auf den Premiumweg. Die Fahrstraße wird zugleich im 30-Minuten-Takt zur längsten Rodelstrecke Deutschlands.
Einmal monatlich, immer zum Vollmond, veranstaltet Günter zudem eine Fackelwanderung mit anschließender Hüttengaudi. Auch die verdient das Premiumsiegel: Günter mit seinen Bergfex’n und ein Alphorn-Trio heizen den Gästen nicht selten bis zum Morgengrauen ein. Das hat dann allerdings nichts mehr mit Entschleunigung zu tun.
Infos zum Winterwandern in Reit im Winkl unter reitimwinkl.de
Lust auf einen "Moonwalk" im Bayerischen Wald?
Video zum Winterwandern im Naturpark
Naturpark-Rangerin Dr. Melanie Chisté weiß um die Anziehungskraft der Natur. Mit Blick auf die dort lebenden Tiere lautet ihr wichtigster Tipp: Bleibt bitte auf den markierten Wegen. So erreicht man problemlos die schönsten Stellen und schützt Fauna und Flora.