Die Wiesn versetzt einen Großteil von Münchens Bewohnern und Gästen in den Ausnahmezustand. Was aber bedeutet das Oktoberfest für die Menschen, die dort arbeiten? Wir begleiteten Wiesn-Kellnerin Cristin bei ihrer Arbeit im Schottenhamel-Festzelt
Oktoberfest: Ein Tag mit
Wiesn-Kellnerin Cristin
Cristins Wohlfühlmenge sind acht Maß Bier. Sie trinkt sie nicht. Sie trägt sie. Sechs Maß stemmt sie vor ihrer Brust, mit der linken Hand greift sie die sechs Henkel. Mit der rechten Hand greift sie die siebte Maß, eine achte Maß findet meist noch oben in der Mitte Platz.
Sie tut das Dutzende Male am Tag. Schlängelt sich an angetrunkenen Gästen vorbei, geduldig, ohne je etwas zu verschütten. Es ist eng. Es ist laut. Es ist stickig. Anstrengend? Cristin jedenfalls merkt man nichts an. Stets hat sie ein Lächeln im Gesicht. „Ich könnte auch mehr Maß tragen, aber das ist dann nicht so toll, wenn es eng wird. Dann lauf ich lieber zweimal und bin trotzdem genauso schnell“, sagt sie.
Am frühen Nachmittag dieses fast sommerlich warmen Mittwochs Ende September ist es ruhig. Noch. Die Ruhe vor dem Sturm: Schon bald wird sich das Schottenhamel-Festzelt mehr und mehr füllen. Ein ganz normaler Arbeitstag für Cristin und ihre Kollegen und Kolleginnen.
Es ist eng. Es ist laut. Es ist stickig. Anstrengend? Cristin jedenfalls merkt man nichts an. Stets hat sie ein Lächeln im Gesicht.
„Man muss das natürlich auch mögen, diese Wiesn-Stimmung. Die meisten Gäste sind total nett. Klar gibt es den einen oder anderen Betrunkenen, der mal einen blöden Spruch bringt oder sowas. Aber da muss man als Bedienung drüberstehen, es ein bisschen weglachen. Oder auch mal mitscherzen. Wenn man sich darüber aufregt, ist es nicht der richtige Job“, sagt Cristin, nachdem sie einer Gruppe junger Studenten die erste Runde Bier serviert hat.
Am Nebentisch haben es sich die nächsten Gäste gemütlich gemacht – Cristin muss weiter. Sie nimmt die Bestellung auf und flitzt zum Ausschank, wo sie sich, so elegant wie kraftvoll zupackend, weitere acht Maßkrüge abholt, als hätte sie nie etwas anderes in ihrem Leben gemacht.
Ausnahmezustand – auch für den Körper
Eine volle Maß wiegt in etwa 2,3 Kilo – Cristin ist 1,63 Meter groß, zierlich. Und sie trägt bei acht Maß Bier über 18 Kilo mit sich herum. Auf der Wiesn arbeitet sie 18 Tage am Stück durch. Pausen macht sie in Absprache mit den Kollegen immer wieder zwischendurch, wenn es gerade gut passt.
In einem kleinen Nebenraum für Mitarbeiter bekommt sie Getränke und eine Stärkung, kann durchschnaufen.
Zeit zu fragen: Wie bereitet man sich auf so einen Job eigentlich vor? Training? Cristin lacht. Sie trinkt einen Schluck Apfelschorle und sagt: „Als ich dieses Jahr die ersten Krüge getragen hab, wünschte ich mir kurz, ich hätte vorher trainiert. Aber das ist halb so wild, man ist da sehr schnell wieder drin und merkt die Anstrengung nicht mehr.“
Eine Technik zum Tragen der Bierkrüge hat sie sich vor ein paar Jahren, als sie das erste Mal auf der Wiesn bediente, zu eigen gemacht. „Mir wurde das einmal gezeigt. Am Ende entwickelt jeder so seine Technik, die am praktischsten ist.“ Den ganzen Tag auf den Beinen sein, schwer tragen, laut sprechen im lauten, schwülen Zelt, das alles sieht bei Cristin und ihren Kollegen leicht aus, es ist aber körperlich sehr anstrengend.
„Viele Bedienungen stärken ihr Immunsystem. Ich habe auch zusätzlich Vitamin C, Eisen und Magnesium genommen“, sagt Cristin.
Die Wiesn-Zeit ist in München dafür bekannt, dass die halbe Stadt krank ist. Klar, da wird im Zelt gebusselt, geschmust, getrunken, gefeiert. Drinnen ist’s oft kuschelig warm, fast schon zu heiß, draußen frisch, vor allem abends. Krank werden – das kann da schon mal passieren. „Was viele Bedienungen schon vor Beginn der Wiesn machen? Sie stärken ihr Immunsystem. Ich habe auch zusätzlich Vitamin C, Eisen und Magnesium genommen. Wenn es einen mal ganz schlimm erwischt, hilft noch Aspirin oder die Kollegen helfen aus“, sagt Cristin.
Viel Zeit, um zu sitzen, bleibt nicht. Cristin checkt kurz, ob alles parat ist: Blick in den Geldbeutel, Namensschild-Herzchen zurechtrücken, Notizblock und Stift griffbereit. Aufstehen. Weiter geht’s.
Hendl, Dinosaurier, Bierkrugtürme
Die Stimmung im Zelt ist am frühen Abend feucht-fröhlich, die ersten Gäste tanzen und grölen gut gelaunt auf den Bänken. Es wird voller. Und heißer. Und stickiger. Die knusprig gebratenen Hendln wandern wie am Fließband über die Theke. Irgendwo schwebt ein Dinosaurier-Luftballon über der Menge. An einem besonders kreativen Tisch wird ein Turm aus Bierkrügen gebaut.
Mittendrin: Cristin und ihre Kollegen, die von Tisch zu Tisch sprinten. „Warum schaut ihr eigentlich wie Krankenschwestern aus?“, will ein Gast wissen. Diese Frage hören Cristin und ihre Kolleginnen nicht zum ersten Mal und werden sie heute vermutlich auch nicht zum letzten Mal gehört haben.
„Warum schaut ihr eigentlich wie Krankenschwestern aus?“, will ein Gast wissen.
Randnotiz: Das Schottenhamel-Festzelt ist das einzige Zelt auf der Wiesn, in dem die weiblichen Bedienungen kein Dirndl tragen. Cristin und ihre Kolleginnen tragen das traditionelle Bedienungsgewand: Ein schwarzes Shirt und einen schwarzen Rock, darüber eine weiße, traditionelle Servierschürze und ein Häubchen. Früher trug man zum Arbeiten kein Dirndl.
Ein besonderes Festzelt
Das Schottenhamel-Festzelt ist nicht irgendein Wiesnzelt. Es ist das Zelt, in dem jedes Jahr Punkt 12 am ersten Oktoberfesttag der Wiesn-Anstich durch den Münchener Oberbürgermeister stattfindet. Nachdem der Bürgermeister „O‘zapft is! Auf eine friedliche Wiesn!“ verkündet, darf in den anderen Zelten mit dem Ausschank begonnen werden.
„Das ist schon immer ein ganz besonderer Moment in dieser ganzen Zeit. Mein Highlight war dieses Jahr außerdem, dass ich beim Einzug der Wiesn-Wirte mitfahren durfte. Ein wunderschönes Erlebnis war das“, sagt Cristin.
Zeit für Freunde? Fehlanzeige!
Wenn Cristin von morgens bis spät abends auf der Wiesn arbeitet, hat sie kaum noch ein anderes Leben. Ihr Leben findet auf der Wiesn statt. Also im Schottenhamel-Festzelt, genauer gesagt. „Man hat natürlich einen ganz anderen Lebensrhythmus als alle anderen. Da sieht man Freunde und Familie nicht so richtig. Aber ich werde auch oft im Zelt besucht, das ist schön“, sagt sie. Schürzen hat sie mehrere, die immer wieder gewaschen und gewechselt werden. Bis Cristin am Ende eines Arbeitstags ins Bett kommt, wird es schon auch mal nach Mitternacht.
Hat der letzte Gast das Zelt verlassen, wird aufgeräumt und geputzt, dann erst geht es heim. Vor allem werden Fundstücke aufgesammelt. Jacken und Regenschirme werden gern vergessen. „Und natürlich sitzt man immer wieder mit den Kollegen zusammen und trinkt oder isst was, versucht zusammen bisschen runterzukommen. Das gehört auch dazu. Man ist so tief in dieser Welt, da funktioniert die Zeit anders.“
„Man ist so tief in dieser Welt, da funktioniert die Zeit anders.“
Für die zwei Wochen im Jahr nimmt Cristin sich von ihrem Job als Eventmarketing-Managerin bei Bayern Tourismus Marketing Urlaub. Und obwohl es anstrengende Tage mit wenig Schlaf sind, freut sie sich darauf.
„Ich mag das einfach, es macht mir sehr Spaß, sonst würde ich das nicht tun. Am allerschönsten ist für mich immer der letzte Tag. Da wird es im Team auch schon ein bisschen emotional, wenn man weiß, die Zeit ist jetzt vorbei. Wir verteilen dann an alle Besucher Wunderkerzen. Das ist eine superschöne Atmosphäre im Festzelt.“ Zum Abschluss laufen dann die Kellner und Kellnerinnen außerdem eine kleine Kellner-Parade, ähnlich wie bei einer Polonaise, durchs Zelt und stoßen mit den Besuchern an.
Sägespäne gegen Häufchen
Natürlich gibt es auch unglamouröse Situationen, mit denen man als Wiesn-Bedienung umgehen muss. Der Klassiker: Erbrochenes. „Da sind wir für alles gerüstet. Ein altbewährter Trick, den wir anwenden: Sägespäne auf das Häufchen. Das zieht die Feuchtigkeit und nimmt den Geruch weg. Dann muss man es nur noch wegkehren“. Auch das gehört zum Arbeitsalltag im Wiesn-Zelt.
Heute kamen die Sägespäne noch nicht zum Einsatz. Immerhin. Dafür ist Cristin mit flottem Schritt in der Menschenmenge unterwegs, die versorgt werden will. Apropos Schritt: Irgendwann hat Cristin aufgehört zu zählen, wie viele Schritte sie an einem Tag macht. „Am ersten Tag waren es schon irgendwas mit 28.000.“
Das Business mit dem Bier
Damit die Gäste an ihr Bier und das Essen kommen, müssen alle Wiesn-Bedienungen die „Ware“ bei den Wirten erst kaufen. Eine Maß kostet für den Gast circa 14 Euro – Cristin und ihre Kollegen kaufen die Maß für etwas weniger ein. Die Differenz liegt bei etwa einem Euro. Der Hauptverdienst der Wiesn-Bedienungen setzt sich aus einer Umsatzbeteiligung und dem Trinkgeld zusammen. Einen Stundenlohn gibt es nicht.
Die spendabelsten Gäste? „Die Amerikaner sind immer total großzügig. Ich glaube, für die ist das so besonders, dass sie da sind. Sie geben gern mehr Trinkgeld als andere“, sagt Cristin. Wie viel Trinkgeld man bekommt, das hänge von verschiedenen Faktoren ab: In welchem Bereich man bedient, ob gutes oder schlechtes Wetter ist, zum Beispiel. Der Verdienst von Wiesn-Bedienungen variiert, er liegt bei den meisten zwischen 5.000 und 16.000 Euro. Wenn es gut läuft, also durchaus lukrativ.
Vollgas bis zum Schluss
Draußen geht langsam die Sonne unter, taucht die leuchtende Theresienwiese in Blau- und Violetttöne. Drinnen beginnt für Cristin jetzt das Abendgeschäft. Die Gäste wollen eine schöne Zeit, gutes Essen und kühles Bier. Cristin erwischt man kaum noch richtig. Zu viel zu tun. Kaum Zeit, um noch zu quatschen. Mit ihrem Kollegen tauscht sie Blicke, man nickt sich kurz zu. Bestellung aufnehmen, servieren, abräumen. Wieder von vorne. Alles ist geregelt, sie sind ein eingespieltes Team. Nur so kann es funktionieren.
Trotz Wiesn-Wahnsinn und fortgeschrittener Stunde behält Cristin den Überblick. Sie wird das weiterhin tun, bis zum letzten Tag. Bis sie das letzte Bier serviert und sich, mit einer Wunderkerze in der Hand, ein bisschen wehmütig, aber auch erleichtert, in die nächste Wiesn-Saison verabschiedet.
Checklist Oktoberfest
- Korrekte Aussprache der Maß? Mass mit kurzem a wie in Fass
- Wie isst man Hendl? Mit den Fingern, deshalb das Reinigungstuch
- Gehe ich auf „die Wiesen“, „auf die Wiese“ oder „zur Wiese“? Alles falsch. Man geht „auf d'Wiesn“
- Tanzen auf den Bänken ist okay, auf den Tischen nicht
- Ohne Sitzplatz kein Bier – also am besten mit Freunden einen Tisch reservieren