Stadtführung in Nürnberg mit Gästeführerin Ulrike Hauffe
Mit Händen, Ohren und Herz durch Nürnberg

In Nürnberg trifft mittelalterliches Flair auf Moderne. Mit hör- und tastbaren Stadterlebnissen, digitalen Hilfsmitteln und empathischen Stadtführerinnen wird Geschichte zugänglich und erlebbar gemacht, auch für blinde und sehbehinderte Menschen

Lesezeit: 12 Minuten

Nürnberg für blinde und sehbehinderte Menschen

Nürnberg ist schön, weil es nach Kaffee und Brot duftet, nach dem Fluss, nach altem Stein und frischem Laub. Nürnberg ist schön, weil freundliche, fränkische Gesprächsfetzen in der Luft liegen, weil sich der Boden buckelig wölbt und die Brückeneinfassung warm und rau der Hand schmeichelt.

Nürnberg ist schön, weil sich hier spannende Geschichten ereignet haben. Franziska Sgoff und Jan Lennart Suchanek lieben die mittelalterliche Atmosphäre der Stadt. Sgoff ist blind, ihr Partner sieht auf einem Auge noch 15 Prozent, hinzu kommt ein Tunnelblick. Das andere Auge ist blind.

Ulrike Hauffe, Stadtführerin vom Verein „Geschichte für Alle“, trägt dazu bei, Nürnberg wie eine angenehme Reise zu Gefühl und Verstand zu gestalten. Ihre Gäste machen es ihr leicht, denn die beiden haben ein sonniges Gemüt und freuen sich daran, fremde Städte und Länder zu erkunden.

„Franzi hört unglaublich gut! Dazu bringen uns Gerüche, Tastsinn und ein gutes Gefühl für Stimmungen die Dinge näher, die wir nicht sehen können. Außerdem lieben wir Geschichten“, beschreibt Lennart Suchanek ihrer beider Fähigkeiten, das Leben zu genießen.

KI als Alltagshilfe und Altstadt zum Anfassen

„Seit etwa zwei Jahren erleichtert uns KI den Alltag enorm“, ergänzt Franziska. „Es gibt sehr viele hilfreiche Apps. Vor allem ,BlindSquareʻ hilft uns enorm. Die App beschreibt Kreuzungen, Haltestellen, die Umgebung, ich kann meine Favoriten einspeichern, mich zu beliebten Cafés und Läden führen lassen.

Ich muss nur mein Handy schütteln, um diese Informationen zu bekommen, wir müssen nicht einmal auf der Tastatur herumfummeln. Aber in vielen Situationen brauchen wir die Hilfe anderer Menschen. Die allermeisten sind sehr freundlich. Uns bleibt sowieso nichts anderes übrig, als Vertrauen zu haben.“

Ohne KI, aber mithilfe zweier gebastelter Papptafeln verschafft Ulrike Hauffe ihren Gästen einen groben Überblick über den Aufbau der mittelalterlichen Altstadt. Eine Kordel stellt die Stadtmauer dar, ein sandiger Streifen den Lauf der Pegnitz. Die wichtigsten Kirchen hat sie aus Moosgummi ausgeschnitten und aufgeklebt.

Franzi und Lenni, wie sie sich gegenseitig nennen, loben die gute Orientierung, die sie ertasten können. „Räumliche Vorstellung haben wir zwar keine, es tauchen auch keine Bilder auf. Aber wir merken, ob wir in einer lebendigen Stadt sind, wir hören den fränkischen Dialekt. Und Ulrike Hauffe erklärt, was um uns herum vor sich geht. Das ist schöner, als alleine mit der App eine Stadt zu erkunden.“

Henkerhaus: Lebendiges Mittelalter

Dann lauschen sie der Geschichte des berühmten Henkers Franz Schmidt vor dem Scharfrichterhaus, in dem er von 1578 bis Ende 1617 lebte. Das Spätmittelalter mit seinen grausamen Strafen wird lebendig. „Franz Schmidt hat erwirkt, dass Kindsmörderinnen nicht mehr ertränkt, sondern mit dem Schwert hingerichtet wurden“, erzählt Ulrike Hauffe.

„Schmidt war Scharfrichter wider Willen, der ungeliebte Beruf hatte sich vom Vater auf den Sohn vererbt. Er wollte nicht töten, er wollte heilen. Er nutzte sein Recht aus, Leichen zu obduzieren, und lernte dadurch so viel über den menschlichen Körper, dass die Menschen ihn heimlich aufsuchten, wenn sie Beschwerden hatten. Erst als er das Amt des Henkers aufgeben konnte und das Bürgerrecht erlangt hatte, durfte er offiziell als Arzt praktizieren.“

Den Geruch des Flusses und sein stilles Fließen nimmt Franziska Sgoff wahr, die buckeligen Pflastersteine ertastet sie mit ihrem schicken Blindenstock. „Das ist mein Ausgehstock, der weinrote Ledergriff schmeichelt in der Hand“, sagt sie. „Ich kann zwar keine Farben sehen, stelle mir weinrot aber lebendig vor.“ Sie geht Hand in Hand mit Lenni. „Ich passe auf Franzi auf,“ sagt er.

Marktduft und Marzipanwürste

Echte Nürnberger Bratwürste kann man schlecht ertasten, weil heiß und fettig, doch Ulrike Hauffe hat „Drei im Weckla“ als Modell aus Marzipan aufgetrieben. Das seltsame Gebilde aus Semmel und Würsten wird ausführlich erforscht, auch wenn natürlich der Duft fehlt. Echte Würstchen wird es später geben.

Große Begeisterung löst der Markt aus, genauer: ein Stand mit Kuscheltieren. „Wir lieben Kuscheltiere! Sie sind so weich!“, strahlt Franziska und schmust mit einer Eule, „am liebsten hätten wir eine Katze, aber dafür sind wir zu viel unterwegs.“

„Es ist belebt, aber nicht zu voll, das mag ich gerne. Zu viele Menschen bedeuten Stress.“

Für einen großen Softwarekonzern überprüft Franziska Sgoff digitale Produkte auf Barrierefreiheit, leitet Workshops und hält Vorträge in ganz Deutschland über die Möglichkeiten digitaler Hilfsmittel. Selbstverständlich sind inzwischen Braille-Zeilen für den Computer, um zu schreiben. Über die Sprachausgabe der verschiedenen Geräte können sehbehinderte Menschen Texte erfassen.

Auch Lennart Suchanek gibt sein Wissen weiter: Er ist beim Zoll und unterrichtet Mitarbeiter über die Bedürfnisse von Menschen, die mit einer Einschränkung leben. Betroffene begleitet er während der Ausbildung und unterstützt sie im Betrieb.

Vorsichtig geht das Paar durch den Markt, die beiden saugen das Aroma von Kaffee, den Duft von Seife ein und nehmen die Gesprächsfetzen der Passanten auf. „Es ist belebt, aber nicht zu voll“, bemerkt Lennart, „das mag ich gerne. Zu viele Menschen bedeuten Stress.“

Dürfen nicht fehlen: Lebkuchengewürze

Ulrike Hauffe bleibt mit einigem Abstand zu der Touristengruppe stehen, die den Schönen Brunnen bewundert, um mit Franziska und Lennart ein Lebkuchenquiz zu spielen. Vier Schraubgläschen mit Gewürzen hat sie dabei: Honig, Zimt, Ingwer und Kardamom. Diese typischen Gewürze, die im Nürnberger Lebkuchen verwendet werden, erraten die beiden mühelos. Betastet und probiert wird anschließend im „Wicklein Lebkuchen Shop“.

Die Ausführungen zum Schönen Brunnen kürzt Ulrike Hauffe ab, das Stehen wird für Franziska langsam anstrengend, sie ist auch körperlich etwas eingeschränkt. Nur so viel: erbaut von 1385 bis 1396 von, mehrmals restauriert. Das Liebesdrama, das sich um einen Eisenring am Brunnen rankt, ist spannender: Meister Kuhn, der Schmied, hatte in das Gitter, das den Brunnen umschließt, zur Zierde auch Ringe eingeschweißt. Als sein Lehrling um die Hand seiner Tochter Margarete anhielt, war der Meister nicht begeistert und polterte los: „So wenig, wie die Ringe am Eisengitter sich drehen können, kriegst du meine Tochter zur Frau!“

Der geschickte Lehrling ersetzte heimlich einen der Ringe durch einen beweglichen und verschwand. Traurig für Margarete, schade für den Schmied, der seine Hartherzigkeit bereute. Schön für alle Reiseführer von Nürnberg, die ihrer Gruppe etwas Besonderes bieten möchten: Wer am Gitter hochklettert und am Ring dreht, darf sich etwas wünschen.

Herzenswünsche

Ulrike Hauffe stützt Franziska und Lennart beim Klettern, der Ring wird gedreht. Wir wissen nicht, was sich das glückliche Paar gewünscht hat. Gefunden haben sie sich schon vor fünf Jahren. Bald werden sie zusammenziehen, Lennart Suchanek wohnt noch in Erfurt, Franziska Sgoff in Freising.

„Wir Blinde und Sehbehinderte finden oft zueinander, weil wir gemeinsame Erfahrungen teilen“, erklärt Lenni. „Wir pflegen aber auch enge Freundschaften mit sehenden Menschen. Weil sich unsere Lebenswelten unterscheiden, entstehen manchmal Missverständnisse oder Unsicherheiten. Wir sollten alle mehr übereinander wissen, um das zu verhindern.“

Augmented Reality und Mut zur Stadtwurst

Zeit, echte Nürnberger Bratwürste zu probieren. Doch vorher tischt das Restaurant „Die Wirtschaft“ Gutzerla auf. Das sind regionale Spezialitäten: Stadtwurst mit Musik, Ziegenkäse im Speckmantel, Limburger in Essig und Öl, Krokette aus Rinderzunge.

Die beiden brauchen Mut zum Probieren und einen Kellner, der ihnen beschreibt, was genau in welchem Schälchen liegt. „Die Wirtschaft“ ist schlicht und modern. Lennart lobt die Tischplatte aus hellem Holz, die sich vom dunklen Boden absetzt. So kann er mit seiner schwachen Sehkraft erkennen, wo der Tisch aufhört.

Absolutes Highlight des Nürnberg-Besuchs ist das Deutsche Museum. Seit 2024 können blinde und sehbehinderte Menschen mithilfe einer „HoloAudioTour“ das Museum selbstständig erkunden. Eine Augmented-Reality-Brille beschallt Besucher und Besucherinnen mit 360-Grad-Rundum-Sound und navigiert mit akustischen Signalen durch das Museum. Seheingeschränkte Menschen können auch visuell der Route folgen: Eine holografische Einspielung macht das möglich.

Digitale Hilfsmittel für die Sinne

Franziska entscheidet sich für den Bereich „System Erde“. Fasziniert lauscht sie den Informationen über unser Essen von morgen, dann geht sie weiter zu einer der interaktiven Stationen. Sie beugt sich über ein Reagenzglas, in das verschiedene Gerüche eingeleitet und über die AR-Brille erklärt werden. Lennart interessiert sich fürs Thema „System Stadt“.

Er erfährt Erstaunliches über das Bauen der Zukunft, zum Beispiel betastet er einen überlebensgroßen Kartoffelkäfer, dessen Flügelstruktur Vorbild für die Konstruktion eines ultraleichten Dachs wurde. Er hebt Betonwürfel an, lernt etwas über den Hyperloop, ein Transportsystem, an dem noch geforscht wird. Der Rundgang durch Raum und Zeit beflügelt die wildesten Fantasien. Ist die ringförmige Raumstation auf einem Planeten Sciencefiction oder irgendwann möglich?

Franzi und Lenni setzen auf Forschung und Technik. „Das Studium wäre ohne iPhone unendlich mühsam gewesen. Wir lassen uns Texte von ,Be My Eyesʻ oder ,Seeing AIʻ vorlesen, demnächst schaffe ich mir den ,Feelspace Navigürtelʻ an. Ich kann dann einfach drauflosgehen – ohne Angst und Unsicherheit. Der Gürtel zeigt mir Richtungen und Wege durch Vibrationen am Bauch an. Wir werden die letzten Barrieren zur Welt der Sehenden überwinden“, hofft Franziska und setzt ihre futuristische AR-Brille wieder auf.

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