Um einen Achttausender zu bezwingen, bedarf es Erfahrung, Mut, Bombenkondition, viel Zeit und mehr. Wir bezwangen auf unserer Kammwanderung an einem Tag sieben erhabene Gipfel. Am Ende der Tour thronte „König Arber“. Text: Christian Haas Fotos: Frank Heuer
Goldsteig: Genusswandern im Bayerischen Wald
„Was haben wir denn da? Eine Bayerwald-Ananas!“ Johannes Matt ergreift das hüfthohe Gewächs am Wegesrand, schnuppert dran und erklärt der staunenden Kleingruppe: „Offiziell heißt die Pflanze Wald-Hainsimse, aber die Staude erinnert an die Tropenfrucht, daher der Spitzname“, erklärt der Gebietsbetreuer für die Arber-Region, eine Art Naturpark-Ranger. „Den Strunk kann man sogar essen! Wer will?“
Auch wenn nach dreieinhalb Stunden Wanderung der Magen etwas durchhängt, lehnen wir dankend ab. Lieber pflücken wir Heidelbeeren, die überall wachsen. Außerdem wollen wir am nahen 1.262 Meter hohen Heugstatt die mitgebrachte Brotzeit zu uns zu nehmen. Hütten gibt es nur auf dem letzten Tourdrittel (die „Chamer Hütte“ unterhalb des Kleinen Arbers), oder wenn man kleine Abstiege wie von hier zur „Berghütte Schareben“ in Kauf nimmt.
Das sparen wir uns. Auch weil der in der Mitte des Arber-Hauptkamms gelegene Tausender – heute übrigens schon der fünfte – ein einladendes Gipfelplateau aufweist. Statt wie andernbergs Fels und Stein lockt dort eine herrliche, von Sträuchern und Bauminseln durchsetzte Wiese, die lange als Schachten, also als Almweide für Jungvieh, genutzt wurde.
Auch das Gipfelkreuz ist anders: Das aus Ästen mit Seilen verknotete Kreuz wirkt richtig bescheiden. Es kommt lang nicht so wuchtig daher wie die stählernen XXL-Vertreter gestern am Kleinen Riedelstein oder vorhin am Mühlriegel. Alternativen Flair versprühen zudem die zerzausten, tibetanischen Gebetsfahnen, die an den Befestigungsschnüren im Sommerwind flattern.
Über federnden Waldboden
Wir setzen uns auf die Wiese und genießen den Blick ins Zellertal und weit darüber hinaus Richtung Süden. Im Westen sehen wir die heute zurückgelegte Strecke inklusive der Vorgängergipfel Mühlriegel, Ödriegel, Schwarzeck und Reischflecksattel (den man unterhalb passiert). Und in der Ferne ist die „Kötztinger Hütte“ auszumachen, an der wir gestern zum „Warmlaufen“ gestartet sind.
„Ein Sahnestück der Region!“
Wie hatte Stephan Frisch, Leiter der Tourist-Information Arrach, angekündigt: „Ein Sahnestück der Region!“ Man muss sagen: Das war nicht übertrieben. Die Kammwanderung am Kaitersberg sorgte mit ihren Ausblicken, den felsig-moosigen Waldwegen und den mystischen Rauchröhren, rund 40 Meter hohen Felsnadeln, für Hochstimmung. Als wir spätnachmittags am Ski- und Wanderparkplatz Eck ankamen, wollten wir am liebsten sofort weiter.
Für die „acht Tausender“ sollte man aber einen ganzen Tag einplanen, sprich: morgens starten. Außerdem waren wir mit Johannes verabredet. Wobei es einen Guide nicht wirklich bräuchte, prangt doch das Schlängelweg-Symbol des Goldsteigs, Deutschlands längstem zertifizierten Fernwanderweg, regelmäßig an Buchen, Fichten und Co.
Den abwechslungsreichen Weg, der mal über leicht federnden Waldboden, gelegentlich über Steine und selten über Forststraßen verläuft, kann man kaum verfehlen. Aber Johannes bereichert die Tour mit geschichtlichen, gesellschaftlichen, heiteren Hintergrundgeschichten. In Naturfragen kennt er sich ohnehin bestens aus.
Tierisch informativ
Ohne Johannes wüssten wir nicht, dass sich im Silberberg bei Bodenmais eines der größten Fledermaus-Winterquartiere Europas befindet oder dass mal ein Fischotter oben auf dem Bergsattel, fernab jeglicher Fischjagdgründe, in eine Fotofalle getappt ist. Ohne ihn hätten wir auch keine Auerwild-Anzeichen gefunden. Er jedoch erspähte auf einem Baumstumpf ein helles, trockenes Mini-Etwas. „Schaut mal, die Winterlosung eines Weibchens.“ Fragende Blicke. „Monatealter Kot!“
Das Auerhuhn ist der größte Vogel im Bayerwald genießt größte Aufmerksamkeit. „Zwar ist die Population stabil, aber eben auch nicht berauschend“, so Johannes. „Zudem gibt es zu viele Männchen. In diversen Losungen fanden wir Stresshormone.“ Für Stress sorgen auch Menschen. Daher wird viel unternommen, um Europas größten Hühnervogel zu schützen.
Alles fürs Auerhuhn
Johannes‘ Kollegin im Naturpark Oberer Bayerischer Wald, Anette Lafaire, legt sich besonders ins Zeug: „Da Wanderer und Tourengeher abseits der Routen die Tiere in die Flucht schlagen, gilt in Schutzzonen ein Wegegebot von Anfang November bis Ende Juni. Auf Sperrungen oder Strafen aber verzichten wir.“
Das Prinzip „Aufklärung statt Verbote“ bestimmt die Naturparkarbeit. Der Fokus liegt auf Führungen, Flyern, Infotafeln. Da tauchen auch Luchs und Wanderfalke oft auf, echte Sympathieträger. „Besser wäre es zwar, nicht nur die sexy Spezies in den Vordergrund zu stellen“, meint Johannes, „aber das ist in der Kommunikation schwierig. Andererseits werden andere Arten mitgeschützt.“
Es läuft im Lamer Winkel
Die Vogelstimmenkulisse ist zuweilen orchesterreif: Rotkehlchen, Zilpzalp, Singdrossel und andere tirilieren im schönsten Dolby-Surround. Das lässt sich genießen, da keine Zivilisationsgeräusche dazwischenfunken. Straßen, Häuser, Industriegebiete – alles weit weg.
„Trends kommen im Bayerwald immer ein paar Jahre später an“
Wer den 16-Kilometer-Kammweg vom Bergsattel Eck zum Großen Arber geht, kreuzt den einen oder anderen Wanderweg, mal eine Loipenschneise, mal eine Forststraße, das war’s. Ebenfalls kaum sichtbar: Radler Stephan meint dazu: „Den Bayerwald erreichen alle Trends ein paar Jahre später. Was auch Vorteile hat. Da weiß man, was auf einen zukommt.“
Klar, worauf er anspielt: das Thema E-MTB, das andernorts dicke Sorgenfalten bereitet. Hier nicht. Es gab und gibt genug Zeit, Extratouren abseits der Hauptwanderwege zu kreieren.
Trailrunning für die Harten
Bei einem anderen Trend ist der Lamer Winkel vorne dabei: Trailrunning. Überregional bekannte Events und eigene Wegmarkierungen unterstreichen das. Tatsächlich hecheln einem Dauerläufer entgegen. Die meisten Wanderer hingegen schlagen moderates Tempo an. Für die mittelschwere Tour bedarf es keinerlei bergsteigerischer Fertigkeiten. Ausdauer aber ist nötig, um die etwa siebenstündige Strecke samt 1.040 Höhenmeter im Anstieg zu meistern.
Die Route führt zwar prinzipiell rauf, aber auch immer wieder runter. Und von einem Top-Ausblick zum nächsten: etwa auf das Gleitschirmdorado Großer Osser oder hinüber in den tschechischen Nationalpark Šumava, zu Deutsch: „Die Rauschende“, was auf das Windrauschen in den Fichten anspielt.
Nach der Brotzeit marschieren wir beschwingt über Wurzelpfade bergan zum 1.285 Meter hohen Enzian. In diesem Bereich und mehr noch am Kleinen Arber wird sichtbar, was Orkane – und in der Folge die Borkenkäfer – anrichten. 2007 hat Kyrill hier schwer gewütet, Flächen rasiert und Baumgerippe hinterlassen. Eine Folge: kaum Schatten. Da es kaum Quellen gibt, wissen wir unseren Wasserproviant zu schätzen.
Erst Orchideen, dann Großer Arber
Johannes wünscht sich die Entfernung uralter Bahnschwellen, die den von Orchideen und Arnika umrankten Anstieg zum Großen Arber pflastern und deren Teergeruch nicht zu leugnen ist. An der Steilheit des Finales würde das nichts ändern. Auch nichts an der Tatsache, dass der König des Bayerischen Waldes mit 1.456 Metern zwar Bayerns Nummer eins außerhalb der Alpen ist, nicht aber in puncto Naturerlebnis.
Der „Königshof“ wird vielseitig genutzt: hier an Riesen-Eiskugeln erinnernde Radarkuppeln, dort Sendemasten, vom Militär beanspruchte Parkplätze und von Ausflüglern genutzte Skipisten und Rundwege. Gleich neben der Bergstation liegt das traditionsreiche „Arberschutzhaus“, in dem wir übernachten.
Gut so, denn eines ist wirklich königlich hier oben: der Ausblick bei Sonnenuntergang. Erst recht, wenn er mit Bärwurz begossen wird, der wohl bekanntesten Schnapsspezialität der Region. Wobei uns Anette gewarnt hat: „Man muss da mindestens zwei trinken, der erste schmeckt einfach noch nicht.“
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