Am Chiemsee lebt es sich als Vogel ausgezeichnet. Das hat sich auch bei Arten herumgesprochen, die bis vor ein paar Jahren noch nicht zu sehen waren. Von den Beobachtungsstationen aus sind tolle Sichtungen möglich, vor allem im ruhigen Winter. Text und Fotos: Dietmar Denger
Vogelhochzeit am Chiemsee
Am frühen Morgen hat der Nebel im Grabenstätter Moos das Schilf und die knorrigen Weiden fast verschluckt. Die frische Baumleiche allerdings ist nicht zu übersehen. Direkt am holprigen Fahrweg zur Hirschauer Bucht hat der Täter in der Nacht ganze Arbeit geleistet und den Stamm in Bodennähe gekonnt durchgefräst.
Der Delinquent ist verschwunden, hat aber Spuren hinterlassen: einen Haufen Holzspäne und plattgewalztes Gras, das schnurstracks in den alten Entwässerungsgraben führt. Die Breite der Schneise lässt auf einen auffallend mopsigen Randalierer schließen.
Mein lieber Schwan!
„Die Biber sind seit einigen Jahren schon wieder zurück am Chiemsee“, freut sich Johannes Kern, der den Hirschauer Riesennager schon oft in flagranti erwischt hat. Abends nach Sonnenuntergang sei die Chance am größten, so der Schreiner aus Amerang, der die Natur am See seit 20 Jahren intensiv fotografiert, beobachtet und belauscht. Zur Vorbereitung auf einen Multimedia-Vortrag steht er an diesem Morgen auf dem hölzernen Beobachtungsturm in der Hirschauer Bucht und hält das puschelige Mikrofon in den Nebel.
Am Seeufer liegen dicke Baumstämme, die die Tiroler Achen bei den letzten Schneeschmelzen aus den Bergen mitgebracht und hier im Achen-Delta wie Mikadostäbe aufgetürmt hat. Die Szenerie könnte auch in Kanada liegen. Oder in Lappland.
Dazu passt das gute Dutzend Singschwäne, das jetzt aus den Dunstfetzen über dem See auftaucht. Die gelbweißen Federbälle sind Wintergäste aus Skandinavien und haben schon seit ein paar Jahren den Chiemsee als Refugium in der kalten Jahreszeit auserkoren.
Der Föhn der vergangenen Tage hat das Eis auf dem See größtenteils verschwinden und die Temperaturen auf T-Shirt-Level ansteigen lassen. Für einen kälteerprobten Schwan des hohen Nordens fühlt sich der Ausflug nach Bayern wahrscheinlich an wie für uns der Karibik-Urlaub.
Rostgans, Silberreiher – Seeadler?
Entsprechend ausgelassen wird geschnattert und getrötet. Dicht am Ufer stakst ein Silberreiher langbeinig durchs Wasser, dahinter ein nicht minder eleganter Graureiher. Silberreiher gibt es seit den 70er-Jahren am Chiemsee, erzählt Hobby-Ornithologe Kern, einige zögen regelmäßig kapitale Hechte aus dem Wasser.
Der Reiher gibt sich auch mal mit kleinen Fischen zufrieden
Heute Morgen geben sie sich mit kleinen Fischen zufrieden. Kern ist von seiner Ausbeute an diesem Morgen schon begeistert und hofft doch auf weitere Sichtungen: „Vielleicht sieht man später noch Fisch- oder Seeadler.“
Um die spektakuläre Seefauna zu erspähen, braucht es nicht einmal das eigene Fernglas. Das fest installierte Fernrohr eines Edelherstellers lässt beim Beobachten die Vögel so plastisch und brillant wirken, als würden sie sich vor der Nase aufplustern – und das ohne Münzeinwurf! So hat man gar nicht erst das Bedürfnis, die Wege zum Turm zu verlassen. Die Schilder, die auf die streng geschützten Ruhezonen hinweisen, sind aber auch nicht zu übersehen.
Einen Blick sollte man auch auf den am Turm angebrachten QR-Code der Seite ornitho.de werfen, wo Vogelfans für alle Stationen am See ihre aktuellen Beobachtungen hochladen. Die Liste kann sich sehen lassen. Außer beim Singschwantrupp scheint das Delta derzeit bei Gänsen beliebt zu sein: Rostgans, Graugans und Brandgans wurden jüngst gesichtet.
Die Wiedergeburt des Biotops
Dabei war die Hirschauer Bucht in den 70er-Jahren noch wuseliges Strandbad. Eine Zeit, als der Chiemsee noch keine Ringkanalisation hatte und das Insektizid DDT nicht nur in Bayern Umwelt, Menschen und besonders der Vogelwelt zu schaffen machte. Viel hat sich seitdem getan.
Schon 1976 traten die Gemeinden am See dem internationalen Ramsar-Abkommen bei, das sich dem Schutz für Wasser- und Watvögel zur Aufgabe gemacht hat – in bester Gesellschaft mit weltberühmten Tierparadiesen wie Etosha in Namibia oder dem Okavango-Delta in Botswana.
1980 setzte im Auftrag der EU der Internationale Rat für Vogelschutz das „Bayerische Meer“ ganz oben auf die Liste mit herausragenden Gebieten für den Vogelschutz, 1992 schließlich wurde der Chiemsee zur „Special Protection Area“ in den Vogelschutzrichtlinien der EU.
„Heimatgebende Identität von Landschaften“
Und dann kam 2014 Dirk Alfermann. Der Biologe ist einer von inzwischen 56 Gebietsbetreuern, die sich in Bayern um den Erhalt von sensiblen Naturschutzflächen kümmern. Viele nennen den Chiemsee-Wart Ranger, erzählt er. „Klingt zwar cooler, aber meine Arbeit geht weit darüber hinaus.“
Alfermann sieht sich als Bindeglied zwischen Naturschutz und Mensch und versucht, die Anliegen von Biber, Reiher & Co. mit denen von Landwirtschaft und Tourismus in Einklang zu bringen. Auch bei Führungen und in Vorträgen wirbt er dafür, „heimatgebende Identität von Landschaften zu stärken“, wie er es ausdrückt.
Vogel-Drive-in: Piep-Show an der A8
Die Verantwortung ist groß, schließlich ist der Chiemsee mit seiner Umgebung bis zum nahen Alpenrand Heimat von 147 Brutvogelarten. Zum Vergleich: In ganz Bayern sind es mit geschätzt 207 Arten nur wenige mehr. Nimmt man die Durchzügler und Wintergäste wie Singschwan und Spießente hinzu, kommt man sogar auf 300 Spezies.
Kein Wunder, dass bei einer derartigen Piep-Show die Besichtigungstürme rund ums Jahr von Ornithologen besucht werden. Wer es ganz bequem haben will, kann das große Schnattern sogar beim Drive-in erleben: Der Parkplatz an der A8 bei Bernau ist allein deshalb spektakulär, weil der Chiemsee dort buchstäblich zum Greifen nah ist. Auf dem Wasser tummelt sich obendrein eine Vogelvielfalt, die sich vom Verkehrslärm kaum beeindrucken lässt – darunter viele Möwen, die es auf den Pausensnack von Rastenden abgesehen haben.
Flamingo, Kiebitz und das Grunzen der Wasserralle
Flamingo? Der ist vor Jahren vermutlich aus einem Privatzoo ausgebüxt
Der komischste Vogel am See hat es lieber etwas ruhiger. In der Irschener Bucht zwischen Bernau und Prien, wo sich an diesem Morgen Schwärme von Blässhühnern tummeln und Kormorane auf Totholz hockend die Federn trocknen, wirkt der Chile-Flamingo etwas verloren. Auf einem Bein steht der rosafarbene Langhals im seichten Uferbereich und bietet einen hübschen Kontrast zu den Bauernhöfen im Hintergrund. Vermutet wird, dass das Tier vor Jahren aus einem Privatzoo bei Salzburg ausgebüxt ist, so Alfermann.
Er selbst hat allerdings andere Lieblinge in der Vogelwelt, echte Bayern. „Der Kiebitz mit seinen tollen Balzflügen. Oder auch der Haubentaucher, den man fast überall am See zu Gesicht bekommt und der im zeitigen Frühjahr ein wirklich ganz besonderes Paarungsspiel an den Tag legt. Und natürlich der Eisvogel aufgrund seiner besonderen Gefiederfärbung und seines Verhaltens bei der Fischjagd.“
Die bunten Eisvögel tummeln sich vor allem auf den Uferbäumen der Prien, kurz vor ihrer Mündung in den Chiemsee. An diesem Morgen chillen nur Krickenten am Ufer und ein Trio Nonnengänse plustert sich vergnügt das schwarz-weiße Federkleid – auch sie sind Entflohene einer Privatzucht.
Am Zufluss in den See hat die Prien Kiesbänke aufgeschüttet, wo sich der Flussregenpfeifer oder die Flussseeschwalbe wohlfühlen. Und nicht wundern sollte man sich über die quiekenden Ferkellaute aus dem Schild dahinter. Der schweinische Sound stammt von der eher unscheinbar wirkenden Wasserralle.
Am Nordufer: Vogelwelt mit Alpenpanorama
Bei Seebruck im Nordufer gesellt sich zum Zwitschern und Tröten der unverstellte Bergblick. Am Horizont türmt sich das schneeweiße Alpenpanorama auf und die Mittagsonne hat die letzten Nebelbänke weggesaugt. Der Große Brachvogel genießt den Bergblick und die ungestörten Brutplätze, weiß Gebietsbetreuer Alfermann. Überhaupt hat man an jeder Beobachtungsstation das Gefühl, an einem anderen See zu sein, so vielfältig sind die Szenerien.
„In Chieming, an der Beobachtungsplattform auf der Westseite des Sees, sind vor allem die Wintermonate lohnend, da man mit Blick auf den weiten, offenen See durchaus gute Chancen hat, Pracht- oder Sterntaucher zu beobachten.“ An diesem Nachmittag tummeln sich vor allem menschliche Seebesucher am weiten Kiesstrand.
Und auch die verschiedenen Jahreszeiten halten an den Türmen und Plattformen tolle Überraschungen bereit. „In der Hirschauer Bucht und im Irschener Winkel sieht man im Frühjahr und Sommer in den Seerosenfeldern brütende Haubentaucher und Blässhühner“, schwärmt Alfermann, „im August und September bei niedrigem Wasserstand im Uferbereich auch verschiedene Watvögel, die mit ihren langen Schnäbeln im Schlamm nach Nahrung stochern. Im Winter sind es vor allem Gründelenten, die die seichten Buchten nach Futter durchstöbern.“
Schutzzonen und Wegsperrungen – und Pssst!
Um die Vogelwelt nicht zu stören, bittet Dirk Alfermann, solle man die Schutzzonen unbedingt meiden, auch auf dem Wasser. „Sie wurden nach langjährigen Vogelbeobachtungen und Kartierungen ausgewählt und dienen den Vögeln als Ruhe- und Rückzugsraum während der Brut- und Aufzuchtzeit, aber auch in der Großgefiedermauser, in der die Vögel flugunfähig sind.“
Auch die Wegsperrungen speziell in der Wiesenbrüterzeit von Anfang März bis Ende Juni sind wichtig. Und je ruhiger man sich auf den Türmen verhält, umso größer seien die Chancen, selbst den spektakulärsten Chiemsee-Bewohnern ganz nahe zu kommen. Dem Seeadler beispielsweise, der sich besonders gern im Achen-Delta aufhält. Ihn entdeckt man also am ehesten vom Turm in der Hirschauer Bucht aus oder auch am nahe gelegenen Lachsgang.
Später am Tag hat Hobby-Birder Johannes Kern auch noch den Fischadler aus nächster Nähe gesehen, wie er am Telefon erzählt. Auf ornitho.de hat er es nicht eingestellt, „sonst stehen morgen Massen von Leuten in der Wiese“. Merke: Ihre besten Geheimnisse behalten Vogelfreunde auch gern mal für sich. Am besten also gleich selbst auf Entdeckungsreise gehen!
Vogelführungen am Chiemsee
Bei den kostenlosen Vogelführungen trifft man sich mit dem Guide an einer der zehn Beobachtungsstationen. Der Chiemsee ist nicht nur ein Vogelparadies. Die Naturerlebnis-Führer bieten spannende Touren an zu den Libellen, Fledermäusen und Bibern rund um den See.