Drei Männer, drei Wiesen: Jedem blüht etwas anderes. Der Biobauer findet seinen Steilhang einfach schön, der Wirt möchte seinen Gästen mit dem Heu etwas Gutes tun, der Almerer brennt Schnaps und Essenzen aus den Kräutern
Vom Leben in den Wiesen
Der Große Alpsee und das Gschwen-der Horn, das hinter dem schimmernden See aufragt, ist Marina Gabler gerade egal. Auch der Reiher und das Wollgras auf der Moorfläche daneben lassen sie kalt. Sie dreht sich vom schönen Allgäu-Blick weg, hin zur wilden Wiese von Bauer Stefan Bentele. Sie richtet ihr Fernglas auf Gräser, Blüten und Heuschrecken, die keine 50 Zentimeter von ihr entfernt sind.
„Ich verwende es als Nahglas“, erklärt die junge Botanikerin und peilt durch die Okulare. „Eine ganz eigene Welt entfaltet sich hier, ich sehe Hummeln, Schwebfliegen, Glockenblumen, Klee, Bocksbart, Gräser und Thymian.“
Der Ameisen-Krimi
Ein Mikrokosmos der wunderlichsten Zusammenhänge und Bedürfnisse tue sich auf, schwärmt sie. Man müsse nur genauer hinsehen.
Dann erzählt sie den Krimi vom Thymian-Ameisenbläuling: Weil er so heikel ist, steht dieser Schmetterling auf der Roten Liste. Er legt nämlich seine Eier ausschließlich auf Arzneithymian oder Dost ab. „Die Raupe des Schmetterlings sondert einen Duftstoff ab, auf den die Ameisen hereinfallen. Sie, denken‘, die gehört zu uns, und schleppen sie in ihre Höhle, wo die Räuberin ihnen alsbald die Brut wegfrisst.“
Solche Geschichten begeistern Marina Gabler, sie brennt geradezu für die Botanik. Keinerlei Gnade für die Ameisen? So ist das Leben halt, in den Wiesen und überhaupt. Ihren Traumjob hat sie beim staatlichen Kompetenzzentrum Alpinium gefunden, als Fachkraft für Landnutzung im alpinen Raum.
Das Alpinium hat sich zum Ziel gesetzt, Tourismus, Landwirtschaft und Naturschutz miteinander zu versöhnen. Viele Landwirte kommen von der intensiven Bewirtschaftung ab, sie düngen weniger und mähen später. Pflanzen und Tiere erholen sich, sehr zur Freude der Touristen. Die Gäste sind zwar nicht so sehr auf Blumen und Gräser angewiesen wie Insekten, Vögel, Salamander und andere Viecher, aber die allermeisten Leute lieben bunte Blumenwiesen.
Wiesenmeisterschaft für steile Naturwunder
87 Pflanzenarten gedeihen auf Stefan Benteles halbem Hektar. Mit dieser Ausbeute errang der Bauer gerade einen der ersten drei Plätze bei der Oberallgäuer Wiesenmeisterschaft. Andere hätten das sehr steile Stück Land vielleicht aufgegeben, wirtschaftlich ausbeuten lässt es sich jedenfalls nicht.
„Ich tät’s nicht mehr anders machen, obwohl ich jetzt mehr Arbeit habe“
„Mit dem Motormäher wäre ich fast schon einmal umgekippt, bei 65 Grad Neigung“, erzählt Bentele, der mit dem Traktor vom Heumachen eingetroffen ist. „Seit 30 Jahren mähe ich diesen Hang, weil er mir gefällt, aber ich bin froh, dass ich das nur einmal im Jahr machen muss. Ohne Mähen wäre hier keine Blumenwiese, sondern Wald.“
Seine Landwirtschaft hat Bentele vor zehn Jahren auf Bio umgestellt. „Ich tät’s nicht mehr anders machen, obwohl ich jetzt mehr Arbeit habe. Früher habe ich teuren Mineraldünger ausgestreut, wie ich es in der Landwirtschaftsschule gelernt habe. Die Blumen verschwanden. Was die uns alles verzählt haben! Der Großvater, mit dem ich immer als Bub auf der Alpe war, hat es besser gewusst. Jetzt greifen wir viel überliefertes Wissen wieder auf“, erzählt Bentele. Und behauptet, schelmisch lachend, dass seine Kühe auch zufriedener seien: „Denen schmeckt’s besser!“
Ein Büschel pure Heilkraft
Dem Landwirt und Hotelier Klaus Hauber wäre so ein Schnitt viel zu schade, um ihn an Rindviecher zu verfüttern. Dieser Duft! Die Heilkräuter! In einem Büschel frisch gemähter Blumenwiese stecken so viele Kindheitserinnerungen, das kann man dem Vieh nicht zum Wiederkäuen überlassen. Es ist für Haubers Hotelgäste reserviert. Sie dürfen drin baden, sich auf Heu ausruhen, mit Heu zubereitete Speisen essen.
Seine Urlauber müssen aber nicht in Scheunen übernachten wie im 19. Jahrhundert, als Heubäder für Bergfreunde und Kurgäste zum Geheimtipp wurden. So viel Romantik muss gar nicht sein, in „Haubers Naturresort“ schlummert man auf luxuriösen Matratzen in großzügigen Zimmern und Suiten. Alles da, vom iPad bis zur frei stehenden Wanne, vom Blick auf die Nagelfluhkette mit dem Hochgrat bis zu den verschiedenen Pools und einem bezaubernden Natursee. Im ausgedehnten Wellnessbereich könnte man Tage verbringen.
Die Entstehung des Heubads
Wenn die erschöpften Landarbeiter nach einem Tag mit Sensen am Steilhang, dem Huinze-Aufschichten und Heueinlagern gleich in ihrer Scheune in tiefen Schlaf versanken, dann hatten sie nichts Besonderes im Sinn, schon gar nicht irgendwas mit Wohlfühlen.
Am nächsten Tag klopften sie sich die Halme von den Kleidern und waren erholt, als sei nichts gewesen. So ein Gesundheitswunder sprach sich herum bis in die Städte, alle Arten von ausgelaugten und erschöpften Menschen erhofften sich von den Heubädern mehr Nervenstärke.
Natürlich geht heute nicht mehr jedes beliebige Stück Wiese ... und fertig ist die Kur. Da muss schon Therapieheu her! Hauber springt von seinem „Dieselross“, einem Fendt-Traktor, der bereits seit 1957 über die Hauberschen Wiesen knattert. Damals war der Bub noch nicht mal geplant, erst 1963 kam er als Sohn eines Kleinbauern zur Welt.
„Wir haben einen Hektar für Therapieheu reserviert, den düngen wir seit mehr als 20 Jahren nicht mehr“
„Wir haben einen Hektar für Therapieheu reserviert, den düngen wir seit mehr als 20 Jahren nicht mehr“, betont er voll Stolz. „Genau das macht den Reichtum an Heilkräutern aus. Gemäht wird erst, wenn die Pflanzen ausgesamt haben, damit sie dann im nächsten Jahr wieder wachsen. Wenn nur der Klappertopf nicht wäre!“
Klaus Hauber, tiefblaue Augen wie der Himmel über dem Hochgrat, strahlendes Lächeln. Normalerweise. Jetzt muss er eine Runde über den Klappertopf, eine Blume aus der Familie der Sommerwurzgewächse, schimpfen.
Er zupft den gelb blühenden Bösewicht vom Wiesenrand. „Ich muss früher mähen, sonst kann ich in Zukunft nur noch Klappertopf-Bäder anbieten. Er überwuchert alles andere. Andererseits können wegen der früheren Mahd nicht alle Blumen und Gräser aussamen.“
Wird schon gut gehen, Klaus Hauber hat in den letzten Jahrzehnten beim schrittweisen Aufbau seines Naturresorts jede Hürde genommen. Die Allgäuer Tradition des Heubadens anzubieten ist nur eine seiner vielen Ideen. Man kann bei ihm auch eine Schrothkur machen und fasten – was in Anbetracht der guten Küche sehr schade wäre.
Wasserbett plus Heu
Beim professionellen Hauberschen Heubad genießt man umfassende Betreuung. Feucht und dampfend liegt das Heu auf dem körperwarmen Wasserbett bereit, nichts stachelt und piekst.
Der von Rheuma, Ischias, Erschöpfung oder einfach nur Neugier geplagte Mensch wird von einer freundlichen Helferin nackt zwischen feucht-heiße Tücher gepackt. Oben Heu, unten Heu, auf Wunsch Entspannungsmusik – so lässt es sich gut schweben in den ätherischen Dämpfen der verschiedenen Wiesenkräuter. Nach etwa einer halben Stunde darf man sich im Ruheraum auf ein Heubett legen und das Erlebnis nachwirken lassen.
Kräuterkraft, Schluck für Schluck
Michael Schneider hingegen setzt auf die innerlich angewendete Kraft der Kräuter. Auf 1.300 Meter Höhe lebt und destilliert der Mittfünfziger auf seiner Kräuteralpe Hörmoos Schnäpse und Essenzen, Geister und Liköre. Best of Schnaps, Frankfurt Trophy und andere Kennerorganisationen zeichnen Michael Schneiders Destillate regelmäßig aus, die entsprechenden Medaillen hängen zuhauf in seiner kleinen Brennstube.
Schneider ist auf der Alpe aufgewachsen. Die Almwirtschaft hat er vor Jahren seinem Bruder überlassen und für sich und seine Frau das Holzhaus gebaut. Er musste nicht lange nachdenken, was tun. Als Almbub war er inmitten von Kräuterwiesen groß geworden. Diesen Reichtum musste er nur in Flaschen stecken. Sein Allgäu-Gin enthält zum Beispiel achtzehn Bergkräuter.
Die sammelt er erst, wenn drei Tage hintereinander die Sonne auf sie heruntergebrannt hat, dann werden sie handverlesen und sofort in Alkohol eingelegt. Wenn sie genügend durchgezogen sind, destilliert er diese Mazerate langsam und verbindet sie mit Quellwasser.
„In dieser Höhe entfalten die Pflanzen ein kräftigeres Aroma und stärkere Heilkräfte. Warum? Wachstum und Blüte sind kurz, die Sonne strahlt intensiver, die Nächte sind dunkler und kühler, die Luft ist reiner und die Erde würziger“, schwärmt Schneider.
Auch er scheint von der Höhe zu profitieren, er wirkt ausgesprochen zufrieden mit dem Leben und der Enklave, die er geschaffen hat. Er zeigt den nach einer geheimen Ordnung wuchernden Kräutergarten und die Permakultur, die er rund um sein uriges Holzhaus angelegt hat.
Er zeigt auf Kartoffeln und Ringelblumen, Ysop und Rosenwurz. Insgesamt gedeihen hier mindestens fünfzig Kräuter. Vogelbeeren und Weißdorn blühen, im Herbst wird es genügend Beeren für den Schnaps und die Vögel geben.
„Wenn die Vögel singen, wächst alles besser“, sagt er lächelnd. Mit seinen Destillaten könnte er wohlhabend werden. Das aber ist eine Idee, die seiner Vorstellung vom guten Leben widerspricht. 400 Liter Schnaps werden gebrannt, jeder Tropfen mehr würde in Arbeit ausarten. Was er denn mit seiner Freizeit anfange? Michael Schneider ist aufgeräumtester Laune und sagt nur ein Wort: Nichts.