Wo einst Räuber durchs Unterholz streiften, sind jetzt friedvolle Wanderer unterwegs. Wie unsere Reporter, die auf dem Eselsweg durch den Spessart liefen. Die Highlights? Methusalembäume, legale Wildniscamps und der Boxenstopp in einer Gin-Brennerei.
Genusswandern im Spessart
Mehr als 30 Meter hoch, knorrige Rinde und deutlich dicker als ihre Nachbarbäume: Das muss sie sein, die Uralt-Eiche östlich von Schöllkrippen. Ein echter Methusalem! Wir halten inne, denn mal ehrlich: Wer wie ein Zwerg vor einem hölzernen Riesen steht, der jung war, als Napoleon hier durchzog, wird von allein ehrfürchtig.
Im Spessart passiert das ständig, die Bayerischen Staatsforsten haben mehr als 600 mitunter noch viel ältere Bäume – neben Eichen auch Buchen, Kastanien, Douglasien und Tannen – kartiert und spannende Geschichten dazu auf der Website wald-im-spessart.de zusammengetragen.
Dort steht auch einiges über die berühmte Spessart-Eiche. So ruhen etliche Gebäude in Amsterdam und Venedig auf Eichenstämmen, die aus Deutschlands größtem zusammenhängendem Laubwaldgebiet stammen. Und vor einigen Jahren wählte Apple das wertvolle Holz aus Bayern, um daraus über 500 Tische für die kalifornische Zentrale zu fertigen. Highend-Holz für Design-Apostel – wie kommt’s?
Geringer Niederschlag und nährstoffarme Sandsteinböden sorgen im Spessart für Slow-Motion-Wachstum. Und das garantiert schmale, aber kontinuierliche Jahresringe und demzufolge eine sehr schöne, gleichmäßige Struktur.
Erst volltanken, dann loswandern!
Die Wasserknappheit fällt schnell auf. Es gibt kaum Seen, kaum Quellen, kaum Brunnen. Wer länger durch den Spessart wandern will, sollte sich daher mit ausreichend Trinkwasser eindecken oder regelmäßig „Auftankstellen“ aufsuchen. Etwa die „Rodberghütte“, wo wir unsere erste Pause nach dem Start der Drei-Tage-Tour einlegen.
Drei Gründe sind es, die unseren Wasserbedarf extra pushen: Es ist richtig heiß. Es geht, was man bei einem maximal 586 Meter hohen Mittelgebirge nicht unbedingt erwartet, stets rauf und runter. Und wir schleppen jede Menge Gepäck mit, knapp 30 Kilo: Zelt, Schlafsack, Geschirr, Kocher, Essen. Und wir verzichten auf Gasthäuser und suchen etwas Abenteuer durch Nachtlager in der Natur, etwa auf der Lahnwiese zwei Stunden weiter. Wildcampen, aber legal.
Herrlich ist tags darauf die Wanderstrecke auf dem Eselsweg. Die 120 Kilometer lange Verbindung nutzten schon Kelten und Römer, Bischöfe, Grafen, Ritter, Bauern und Glasmacher. Und eben Esel, die Salz aus den Salinen von Orb in den Süden zum Main zu schleppen hatten.
Schotterwege vs. Wurzelpfade
Echte Esel sehen wir keine, dafür ab und an E-Biker, die dem schwarzen E auf weißen Schildern eine neue Bedeutung geben. Nach dem „Waldhaus zum Engländer“ verlassen wir die ehrwürdige Route und biegen nach Osten ab.
Es gibt im Spessart jede Menge gut beschilderter Wege. Allein auf bayerischem Boden kommen über 600 Kilometer zusammen. Diese reichen von Trampelpfaden bis zu zähen Schotterwegen, die daran erinnern, dass wir uns nicht etwa in einem Nationalpark befinden. Wenngleich es hierzu immer wieder Bestrebungen vulgo Streit gab. Ein Kompromiss könnte demnächst womöglich der Status als Biosphärenreservat sein …
Ruhige Gegend
In puncto Panorama-Ausblick darf man nicht zu viel erwarten, verstecken sich die Gipfel doch meist unter einem geschlossenen Blätterdach. Wenige Ausnahmen ragen heraus, etwa die Sohlhöhe bei Lohr und das Ehrenmal des Spessartbundes auf dem Pollasch. Wir machen auf einer halbwegs aussichtsreichen Anhöhe bei Heigenkirchen Rast und erfreuen uns an gebratenen Spessart-Räuber-Würsten.
„Uns begeistert die Stille, die wir hier haben. Der Spessart ist ein Ort des Friedens.“
Der Duft lockt einen einheimischen Wanderer an. Das hat Seltenheitswert, passend dazu seine Aussage: „Uns begeistert die Stille, die wir hier haben. Der Spessart ist ein Ort des Friedens.“ Selbst wenn die durch die Pandemie beschleunigte Wiederentdeckung der heimischen Natur auch hier spürbar sei, sei das kein Vergleich zu gar mancher Alpenregion. Und auch kein Vergleich zu früher, als die Urlauberzahlen, nicht zuletzt dank der „Wirtshaus im Spessart“-Filmerfolge größer, die Parkplätze voller waren.
Das Rauf und Runter der Gästenachfrage
Was ist passiert? „Na ja, durch die Wende rückten andere Regionen in den Fokus, außerdem zogen große Industriebetriebe Leute ab, die im Tourismus arbeiteten. Wir haben hier quasi Vollbeschäftigung.“ Doch jetzt, wo viele Outdoorfans den Spessart wieder auf dem Radar haben, entstehen auch neue Erlebnis- und Freizeitangebote. Die vor wenigen Jahren eröffneten vier Trekkingcamps sind das beste Beispiel.
Eines der Camps kennen wir schon. Bis wir zu Nummer zwei kommen, dauert es aber noch. Was auch daran liegt, dass wir die Karte falsch lesen und am ersehnten „Kalten Brunnen“ vorbeilaufen. Den idyllischen Bomigsee verfehlen wir nicht. Wir könnten schreien vor Glück, allerdings auch wegen den höchstens 15 Grad Wassertemperatur.
Andererseits kommt so eine Erfrischung nach rund 40.000 Tagesschritten gerade recht, ebenso das von uns abgekochte Wasser. Hätte man leichter haben können, etwa bei einer Einkehr im nahen Rothenbuch. Doch der Thrill-Faktor ist im Zeltlermodus ungleich höher.
Wer indessen Wert auf Kultur legt, sieht sich etwa die Wallfahrtskirche Hessenthal mit dem Riemenschneider-Beweinungsaltar oder das Wasserschloss Mespelbrunn an. Bus und Bahn helfen bei der Spessart-Reise. Doch es geht eben auch abseits der Verkehrswege. Auf unserer etwa 45 Kilometer langen West-Ost-Durchquerung kreuzen wir gerade mal sechs größere Straßen.
Was nicht heißt, dass es stets urwüchsig zugeht. Immer wieder sind Spuren der Holzwirtschaft zu sehen: Waldmaschinen, Schneisen, strauchlose Forstpassagen. Andererseits gibt es regelmäßig Areale, in denen der Wald zwischen Heidekraut, Kartoffelbovist, roten Buntsandsteinbrocken und Blaubeersträuchern vor sich hin wachsen darf. Was auch Luchse, Mopsfledermäuse, Fischotter, Schwarzstörche und der seltene Halsbandschnäpper schätzen. So unbelebt, wie der Wald oft erscheint, ist er garantiert nicht.
Märchenhafte Gin-Einblicke
Der Spessart-Wald liefert auch die Zutaten für den „Snow White Gin“. Welche das sind, wollen wir von den Machern selbst wissen. Sie haben ihre Basis in Rodenbach. Der Ort liegt am Ostrand des Spessarts und ist ein gutes Ziel unserer Traverse.
Die letzten Kilometer gehen (sich) schneller, vorbei am Gedenkkreuz, das an den Transall-Absturz von 1990 erinnert, und hinunter ins Main-Tal. Als wir nach 48 Stunden in der Natur zum ersten Mal wieder Dorfluft schnuppern, fühlt es sich aufgrund des fehlenden Blätterdachs noch mal fünf Grad heißer an. Umso wichtiger das Trinken! Muss ja nicht gleich Gin sein …
Das findet auch Fabian Kreser, einer der Gin-Brenner und wie seine befreundeten Mitstreiter Stefan, Markus und Jonas Ende zwanzig. Erst mal Wasser reichen, dann von der Erfolgsgeschichte erzählen. Über 3.500 verkaufte Flaschen pro Jahr und der Gewinn der Silbermedaille beim Craft Spirit Festival 2018. Wobei das Ginbrennen für das Quartett „nur“ ein Nebenerwerb ist, es geht um Spaß, Genuss – und ein Erbe. „Ich wollte nicht, dass das Brennrecht der Großeltern verfällt, und habe daher den Betrieb übernommen“, so Fabian.
Home of Schneewittchen
„Regionalität ist uns wichtig“, so das Brenner-Credo. Mal vom Wacholder abgesehen, wird nur reine Natur aus dem Spessart verwendet: weiches Quellwasser und Nadeln der Douglasie sowie Äpfel von den elterlichen Plantagen. „Das erste Rezept war noch sehr waldig, so als würde man in einen Baum hineinbeißen. Version zwei schmeckt viel geschmeidiger.“ Geschmeidig ist auch die handgemachte Gestaltung der Flasche, samt Spiegeleffekt und Spessart-Kulisse.
„Das erste Rezept war noch sehr waldig, so als würde man in einen Baum hineinbeißen."
Und der Name Snow White? „Wir haben unseren Gin nach Schneewittchen benannt, dem Aushängeschild unserer Heimat.“ Tatsächlich ist die Märchenfigur vor allem in Lohr am Main, unserem Ziel ein paar Kilometer flussabwärts, omnipräsent. Untermauert wird der Beiname Schneewittchenstadt durch den dort endenden 35 Kilometer langen Schneewittchenweg, ein fragwürdiges Denkmal, als Schneewittchen verkleidete Stadtführerinnen sowie das Spessartmuseum im „Schloss von Schneewittchen“.